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Zwölfender

Zwölfender

Titel: Zwölfender
Autoren: Britta Schröder
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neuen Lack auf und verstrich den Ansatz. Für die kürzeren Bahnen zwischen den Fenstern reichte eine einzige gerade Bewegung.
    Das Holz sog den klaren Lack an und begann zu leuchten.
    »Es wird noch einen Anstrich brauchen«, stellte Jott fest.
    Ich stimmte ihm zu.
    Erneut tauchte ich den Pinsel in den Topf, streifte ihn ab und setzte zur nächsten Bahn an, weiter und weiter, von links nach rechts und wieder auf Anfang. Nur ein einziges Mal warf Jott einen kurzen Kontrollblick.
    Ich zog meine Bahnen und verschwand mit dem Anstrich im Holz.
     
    Nachdem Jott mit dem Dach und ich mit meiner Seite fertig war, nahm er sich die zweite Seitenwand vor, während ich mich dem Eingang zur Kajüte widmete. Wir strichen schweigend aufeinander zu und voneinander weg. Wir hatten dasselbe Tempo.
    Schon als Kind hat es mich angezogen, Menschen, die etwas von ihrem Handwerk verstehen, bei der Arbeit zu erleben. Die beruhigende Wirkung einer routinierten Bewegung, die Sicherheit, mit der einer sein Werkzeug ansetzt, einen Fisch filettiert, Kacheln verlegt, einen Schuh neu besohlt oder mit wenigen Strichen eine Skizze anfertigt, berührt mich immer.
    Dass Jott und ich, ohne einander zu kennen, so still, konzentriert und einhellig nebeneinander arbeiten konnten, empfand ich als Geschenk. Gern hätte ich noch lange so weitergemacht, aber nach dem ersten Anstrich musste der Lack für einige Stunden trocknen.
     
    »Und jetzt?«, fragte ich.
    »Jetzt essen wir«, erklärte Jott und steckte seinen Kopf in die Kajüte, um Aki zu holen.
    Wir setzten uns aufs Vorderdeck.
    Aki brachte Brot, etwas Schinken und drei Flaschen Bier.
    »Wem gehört die Jacht?«, fragte ich.
    »Wir kennen den Eigner nicht. Die Hafenverwaltung hat uns beauftragt«, sagte Jott.
     
    Von Aki erfuhr ich, dass Jott und er Brüder waren. Aufgewachsen im finnischen Turku, waren sie als Kinder mit ihren Eltern und ihrer kleineren Schwester nach Chile gekommen. Der Vater hatte einen Posten als leitender Angestellter in einem Unternehmen angenommen, das mit Salpeter handelte. Er starb jedoch schon wenige Monate nach ihrer Ankunft in Antofagasta an einem Hirnschlag. Seiner Familie hinterließ er ein kleines Haus am Rand der Stadt und gerade so viel Geld, dass seine Frau und seine Tochter bis heute ein knappes, aber sicheres Auskommen hatten.
     
    »Nach der Schule gingen Jott und ich immer in den Hafen und sahen uns die Boote und Jachten an«, erzählte Aki. »Später durften wir für den einen oder anderen Skipper Hilfsarbeiten erledigen. Dann lernten wir den Chef der Jachthafenverwaltung kennen. Er verschaffte uns bald regelmäßig Jobs. Alles, was wir verdienten, haben wir für ein eigenes Boot gespart. Im letzten Herbst haben wir einen Kutter gekauft. Wir bieten Angel- und Ausflugsfahrten für Touristen an, sind aber immer noch oft hier.«
    »Was ist mit eurer Schwester?«, fragte ich die beiden. »Was macht sie?«
    Jotts Augen nahmen eine andere Farbe an. Es sah aus, als liefe ihm von innen Tinte in die Iris.
    »Ja, unsere Schwester …«, hob Aki an. Er stellte seine Bierflasche ab. »Unsere Schwester Venia ist – wie soll ich das erklären? Sie ist gesund und ist es doch nicht. Sie ist jetzt 26 . Wie Jott. Die beiden sind Zwillinge.«
    Nach Jotts Reaktion wagte ich es nicht, weitere Fragen zu stellen.
    Dieser Ausdruck in seinem Gesicht, der mich schon in der Bar kurz touchiert hatte, war von solcher Intensität, dass jede Leichtigkeit darin versickerte. Noch verstand ich nicht, wie das mit seiner Plauderlaune am Vorabend zusammenging.
    Inzwischen weiß ich es, und die Erinnerung fühlt sich an wie ein freiliegender Nerv.
     
    »Danke für deine Hilfe«, sagte Aki.
    »Gern geschehen. Heute war der erste Tag seit langem, an dem ich mich entspannen konnte«, erklärte ich.
    Jott fragte: »Machst du nicht Ferien?«
    »Nicht ganz«, erwiderte ich. »Ich versuche, mich zu vergessen. Erst erinnern, dann vergessen.«
    »Wenn dir das Lackieren dabei hilft«, flachste Aki, »kannst du gerne morgen damit weitermachen.«
    »Einverstanden«, entschied ich. »Wann soll ich hier sein?«

    Wir reinigten die Pinsel. Aki verstaute das Werkzeug in einem der Kajütschränke.
    Unten am Anleger stieg ich in meine Schuhe und lief noch ein Stück mit den beiden. Dann wünschten wir einander einen guten Abend und trennten uns.
     
    Im Hotel prüfte ich erneut meine Mails. – Die Restaurierung würde ihren Gang nehmen. Robert hatte geschrieben und ein paar Fotos von seinen Grabungen
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