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Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel
Autoren: Baum Vicki
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Intensität der vergangenen Tage zu denken, aber es gelang nicht ganz.
    »Ödes Wetter«, sagte er vorwurfsvoll und laut, als wenn da viel Grund für sein inneres Versagen läge. Und dann fuhr er fort, unentschieden und etwas stumpfsinnig auf die Straße zu starren.
    Wie man weiß, verließ Frau Doktor Persenthein, auf das Prestige ihres Mannes bedacht, nie das Haus, ohne den Hut aufzusetzen – und wenn man sie am gestrigen Abend mit bloßen, glänzenden Haaren an Herrn Karbons Seite hatte beobachten können, so war dies ein Signal, das äußerste Lockerung und Verwirrung anzeigte. So hatte sie auch jetzt den Hut aufgesetzt und den Mantel angezogen, denn es war reichlich kalt geworden. Sie trug den neuen Mantel, der drei Jahre alt war, und nicht den alten, in dem sie noch Rehles Geburt erwartet hatte, und kämpfte sich so in Dunkelgrau mit Perlmutterknöpfen den Platz herauf und gegen den immer stärker werdenden Wind an.
    ›Ich habe jetzt genug von dieser Aussicht‹, dachte Karbon mißmutig an seinem Fenster. ›Immer die gleichen zwei Hunde und immer der gleiche alte Mann mit Hemdärmeln und Hosenträgern, der aus der Tür kommt, die Mütze abnimmt, die Glatze kratzt, die Mütze aufsetzt und wieder ins Haus zurückgeht. Und wie die Weiber alle aussehen in so einer Stadt, ist denn so etwas erlaubt?‹
    An dieser Stelle seiner Gedanken aber war es, daß Peter Karbon einen Schlag bekam, ach nein, nichts Zerschmetterndes oder Tragisches, nur eine kleine Ohrfeige – aber etwas, das sich nicht mehr verwischen ließ, so nebensächlich es war. Elisabeth nämlich, die in Mantel, Hut und mit dem Marktnetz unten vorübertrieb, hob in diesem Augenblick den Kopf, sie konnte einfach nicht an dem Gasthof vorbeikommen, ohne zu seinem Fenster hinaufzusehen, und er erkannte sie. Es war ganz unwillkürlich, daß er vom Fenster zurücktrat ins Zimmer und da unbeweglich stehenblieb, als könne er bei einer geringen Bewegung schon entdeckt werden.
    ›Na was denn?‹ dachte er gleich darauf. ›Sie ist arm, das wissen wir. Sie ist keine mondäne Frau, natürlich nicht. Man wird ihr Kleider kaufen, sie hat eine wunderbare Figur, man kann sie anziehen wie eine Prinzessin. Eine Frau, die noch in der Küchenschürze reizend ist.‹
    Es schoben sich Figuren durch sein Unterbewußtsein wie im Schattenspiel. Er merkte es selber nicht, daß Elisabeth, die Frau in der Schürze, sich zurückverwandelte in das Dienstmädchen Betti aus der Knabenzeit, das erste Mädchen, das er gekannt hatte. Der erste Kuß im Wohnzimmer des Angermannshauses wurde zu dem ersten Kuß in der Dienstbotenkammer zu Hause; das Bett, die blakende Petroleumlampe, ein kleiner Fächer an der Wand, das Bild eines Matrosen, und dann Dunkelheit. Alles drehte zurück, zurück, wie eine Zauberformel, die sich wieder löst. »Was denn, was denn, was denn?« sagte er laut, um sich aufzuwecken.
    Er stand noch eine Weile mitten im Zimmer, ziemlich lange, fast vier Minuten – dann nahm er Mantel und Mütze, ging hinunter und stellte sich zwischen die beiden Oleanderbäumchen vor das Haustor, entschlossen, Elisabeths Rückkehr abzuwarten.
    »Ach«, sagte sie und blieb stehen, mit ihrem Einkaufsnetz voll Kuchen. Sie trug Handschuhe – alle Damen in Lohwinckel trugen Handschuhe – und er fand die Wärme ihrer Hand nicht, von der er etwas Unbestimmtes erhofft hatte.
    »Wie geht's heute?« fragte er und schloß sich ihr im Schlenderschritt an, auch sie war langsam geworden.
    »Danke. Gut nach Hause gekommen?« fragte sie zurück, und beide vermieden das Sie und auch das Du. Elisabeths Stimme war etwas höher als sonst, es klang ein wenig arm.
    »Wir haben berühmten Besuch«, setzte sie lächelnd hinzu und hob das Netz ein wenig.
    »Ja. Der Bonze hat ja Ihrem Mann seinen Segen erteilt«, erwiderte er.
    Elisabeths linke Braue hatte sich selbständig gemacht und nervös zu zucken begonnen.
    »Ist schön, daß wir uns treffen, nicht?« sagte er.
    »Ja. Es war nötig«, antwortete sie ernsthaft.
    Er faßte ihren Arm unter, sie gingen schneller, weil der Wind hinter ihnen herrollte, mit Staubwirbeln, Papierfetzen und gelben Lindenblättern.
    »O nein«, sagte sie und löste sich fast erschrocken von ihm los.
    »Komm hier«, sagte er, »hier ist es ruhiger«, und schob sie um die Ecke der Kirche, an die Ostseite, wo es windstill war. Sie gingen schweigend bis zu dem kleinen Kreuzgang mit den Grabtafeln, und dann blieben sie stehen. Elisabeth hob das Gesicht zu ihm auf, lächelte und
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