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Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel
Autoren: Baum Vicki
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der Anfangsglocke, und es kam auch niemand zu spät. Der Primaner Gürzle, Vertrauensmann seiner Klasse, fand sich in der zweiten Pause bei Putex ein und bat im Namen aller um Entschuldigung für jene unerklärlichen und aufrührerischen Dinge, die geschehen waren und die er, stotternd und mit roten, dicken Ohren vor seinem Direktor stehend, als Vorkommnisse bezeichnete. Vorher hatten sie sich alle zusammen hinter den jungen Lehrer Kreibisch gesteckt, und der hatte denn wohl auch bei Putex vorgearbeitet und eine gewisse mürbe und einlenksame Stimmung erzeugt. Zwar wurde über die gesamte Schülerschaft ›Kindergesellschaft‹ verhängt, wie das Nachsitzen am Sonnabendnachmittag im Schuljargon hieß – aber, du lieber Gott, es hätte schlimmer kommen können, und sie hatten doch das Ihre weg. Der Mittelgewichtsmeister von Deutschland war auf ihrem Sportplatz gewesen, und sogar die Dreizehnjährigen waren einer für Jugendliche verbotenen Kinoaufführung teilhaftig geworden und hatten den Fabrikbrand noch obendrein bekommen: Eindrücke von solcher Heftigkeit, daß sie noch zwanzig Jahre später als Jugenderinnerungen in den Berichten inzwischen gereifter Lohwinckler Bürger auftauchen mochten …
    »Passen Sie auf, es legt sich wieder«, sagte der Bürgermeister, Doktor Ohmann, zu seinem Faktotum, dem Magistratsdiener Haberlandt, während er Hut und Mantel ablegte, seiner Morgenzigarre die Spitze abschnitt und nach dem ›Anzeiger für Stadt und Land‹ griff. »Ich spüre das, es legt sich wieder.«
    »Drei fremde Herren sind in einem Auto aus Schaffenburg gekommen«, erzählte die Schneiderin Ritting dem kleinen Kommis im Laden von Heinrich Markus' Nachfolger. Markus selber stand an der Tür seines Geschäftes, lehnte den Kopf an die Glasscheibe und starrte auf den Platz hinaus – was eine durchaus unziemliche Haltung für einen Kaufmann war. In ihm ging der Beginn eines Gedichtes in Klabundschen Rhythmen um, gedieh aber nicht über einen schwierigen Punkt.
    Nüchterner Tag tropft von den Fensterscheiben, Das Karussell dreht gleiche Melodie.
Raketenhülsen liegen schwarz und bleiben,
Doch kranke Sterne –
    Kranke Sterne – kranke Sterne – und dann mußte etwas mit ›nie‹ kommen, aber da ging es eben nicht weiter. »Ob wieder von den roten Zwiebeln bestellt werden soll?« fragte seine Mutter schon das dritte Mal. »Ja, von den roten. Drei Zentner. Auf Wiedersehen, Fräulein Ritting.«
    »Sagen Sie, Herr Markus, Sie wissen auch nicht, wer die drei fremden Herren in dem Auto aus Schaffenburg sind?«
    »Leider nein, Fräulein Ritting.« –
    »Es ist ja kein Wunder, wenn gnädige Frau Herzgeschichten bekommen bei diesen Aufregungen«, sagt der Apotheker Behrendt zu Frau Profet, die schwarzgekleidet und weißgepudert auf einem Stuhl in der Apotheke Platz genommen hat, ein Wasserglas in der Hand schwenkt und Tabletten einnimmt. »Die Tablette zerkauen, gnädige Frau, dann geht sie schneller in die Blutbahn, und die Herzbeklemmungen hören auf, garantiert«, sagt er. »Jetzt scheint es ja auch wieder ruhiger zu werden in unserm Städtchen. Aber da mußte erst eine Katastrophe eintreten, bevor die Leute zur Vernunft kommen.«
    »Wissen Sie denn, daß sie uns gestern Fensterscheiben eingeschlagen haben, während wir im Kino waren?« fragt Frau Profet und zieht die Mundwinkel klagend hinunter über dem bitteren Geschmack der Tabletten. »Was alles vorkommt, wenn die Leute erst einmal aufgehetzt sind! Es ist der Neid, natürlich. Ich verstehe das ja auch, man hat doch soziales Gefühl, nicht wahr? Wenn man so exponiert dasteht wie wir. Aber was man alles erlebt – die Fensterscheiben! Herr Albert mußte in dem kalten Zimmer schlafen, und er ist so empfindlich, man begreift ja, wie kostbar seine Gesundheit ist.«
    »Ach? Empfindlich – man stellt sich so einen Athleten ganz anders vor. Er ist sehr sympathisch, nicht?«
    »Sehr sympathisch, Herr Behrendt, sehr. Ein Kind. Ein Heiliger, wahrhaftig. Wir werden uns schwer von ihm trennen. Aber jetzt ist ja sein Trainer angekommen.«
    Und Frau Profets schlaffes Kinn beginnt verhohlen zu zittern aus Kummer darüber, daß der letzte Aufschwung ihrer inhaltlosen Existenz sich verabschieden will.
    »Mit Essig nachspülen, Frau Bürgermeister?« fragt das Fräulein beim Frisör Kuhammer die Bürgermeisterin, denn das Fräulein ist perfekt und beherrscht ihr Handwerk. »Weiß Frau Bürgermeister schon, daß drei Herren mit einem Auto aus Schaffenburg angekommen sind?
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