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Zwischen uns das Meer (German Edition)

Zwischen uns das Meer (German Edition)

Titel: Zwischen uns das Meer (German Edition)
Autoren: Kristin Hannah
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gemeißelt waren. Jolene streckte ihre behandschuhte Hand aus und fuhr mit den Fingern über die Namen direkt vor ihr. Hier und da an der Wand sah man Andenken, Blumen und Präsente, die liebende Angehörige hinterlassen hatten.
    Es waren über 58 000 Namen.
    Erst als Michael sie in den Arm nahm, merkte sie, dass sie weinte. Sie lehnte sich an ihn und nahm kaum wahr, wie Schneeflocken ihre Wangen und Wimpern benetzten.
    So standen sie, bis Jolene vor Kälte zitterte. Trotzdem wollte sie immer noch nicht gehen. »Ich möchte im Sommer mit den Mädchen hierher.«
    »Gute Idee, aber jetzt lass uns gehen. Meine Finger sind schon ganz taub.«
    Sie nickte und ließ ihn vorgehen. In einiger Entfernung ragte das Lincoln Memorial vor ihnen auf. Angestrahlt von goldenen Scheinwerfern leuchtete es im Zwielicht des verschneiten Tages wie Perlmutt. Ein geteiltes Haus kann nicht bestehen.
    Michael winkte ein Taxi herbei, und sie stiegen ein. »Walter Reed Hospital«, sagte er und schlug seine behandschuhten Hände gegeneinander.
    Jolene machte es sich auf ihrem Sitz bequem und betrachtete die schneebedeckte Stadt, die an ihrem Fenster vorbeiflog. Als sie vor dem beeindruckenden Eingang des Krankenhauses hielten, schneite es so heftig, dass man kaum noch etwas sehen konnte.
    Gerade als sie das betriebsame Krankenhaus betraten, überfiel Jolene ganz plötzlich eine Erinnerung: Sie lag angeschnallt auf einer Trage, starrte in heißes Licht, versuchte, nicht zu schreien oder zu weinen, und fragte immer wieder: Wo ist meine Crew?, bis sie ohnmächtig wurde. Es war ein überwältigender Schmerz und füllte für eine Sekunde ihr gesamtes Bewusstsein aus.
    Michael drückte ihr die Hand und zeigte ihr damit, dass sie hier war, hier stand . Das Schlimmste lag hinter ihnen. Sie streifte ihren schweren Wollmantel ab und reichte ihn Michael.
    Einen Moment lang stand sie einfach nur da, im Bewusstsein ihrer Uniform, geschmückt mit den Orden, die sie sich verdient hatte, und den Rangabzeichen, die so viele Jahre ihr Leben definiert hatten. Plötzlich fühlte sie sich wieder groß und stark. Es war ganz gleich, dass der Rock zeigte, was sie verloren hatte; diese Uniform präsentierte das, was sie über zwanzig Jahre lang gewesen war. Sie trug sie mit Stolz.
    »Alles in Ordnung?«, fragte Michael.
    Sie lächelte. »Ja, mir geht’s gut.«
    »Soll ich auf dich warten?«
    »Ja.« Sie ließ seine Hand los und ging zum Empfang, wo die diensthabende Krankenschwester ihr mitteilte, was sie wissen wollte.
    »Gehören Sie zur Familie?«, fragte die Schwester.
    »Nein.«
    »Werden Sie erwartet?«
    »Auch nicht. Mein Besuch soll eine Überraschung sein. Aber ich habe es vorher mit den Zuständigen abgeklärt.«
    Die Krankenschwester sah sie kurz prüfend an, dann nickte sie. »Zimmer 326. Sie haben Glück, denn in zwei Tagen wird sie entlassen.«
    Jolene dankte ihr und machte sich auf den Weg zu Zimmer 326, das in der orthopädischen Abteilung lag.
    Die Tür stand offen.
    Jolene bewegte sich wie ein alter Hase durch das Gewimmel des medizinischen Personals.
    An der offenen Tür blieb sie stehen und klopfte.
    Im Zimmer lag eine Frau, halb aufgerichtet, in ihrem Bett. Ihr Blick war Jolene allzu vertraut: eine Mischung aus Angst, Wut und Einsamkeit. Es gab nur wenige Orte auf der Welt, die einsamer waren als ein Krankenhauszimmer. Selbst in der Anwesenheit geliebter Mitmenschen gab es kein Entrinnen vor der erschreckenden, isolierenden Tatsache, dass weder Liebe noch Familie einen wieder ganz gesund machen konnten.
    Sie ging zum Bettende und blieb dort stehen. »Sarah Merrin?«
    »Was davon übriggeblieben ist.«
    Jolene floss das Herz über: Diese Frau war fast noch ein Mädchen; sie konnte höchstens zwanzig sein. Wo früher Sarahs Beine gewesen waren, sah man jetzt nur eine flache Decke. »Sie sind immer noch Sarah, auch wenn es sich nicht so anfühlt. Es fühlt sich an, als hätten Sie sie irgendwo da drüben zurückgelassen, stimmt’s?«
    Sarah blickte auf.
    Mein Gott, wie jung sie war!
    »Kenne ich Sie?«
    Jolene löste sich langsam vom Ende des Betts. Als sie vortrat, nur mit dem leisesten Stocken in ihrem Gang, spürte sie, wie sie in der Zeit zurückglitt, bis sie für eine Sekunde wieder selbst die Patientin war und eine junge Angehörige der Marines namens Leah Sykes zu ihr ans Bett kam und ihr lächelnd Hoffnung angeboten hatte, weil auch sie – mit einer Prothese – wieder laufen konnte. Damals hatte Jolene das nicht genug gewürdigt – sie
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