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Zwischen Mond und Versprechen

Zwischen Mond und Versprechen

Titel: Zwischen Mond und Versprechen
Autoren: Shannon Delany
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dachte an ein ruhiges Zimmer mit gepolsterten Wänden, in dem nichts Aufregendes passierte… Vielleicht sollte ich mich einweisen lassen.
    Ich legte den Bleistift weg und schüttelte meine Hand aus. Dann konzentrierte ich mich wieder auf den Unterricht. Rätselhafte Ereignisse der Geschichte lieferten immer guten Stoff für spätere Storys. Ich wollte nicht ewig für die Schülerzeitung arbeiten. Insassen von Irrenhäusern schrieben nicht selbst, es wurde höchstens über sie geschrieben. Ich sollte das Irrenhaus lieber nicht als Kuraufenthalt betrachten. Mein Beratungslehrer Mr Maloy wäre bestimmt erfreut, mich hinzuschicken.
    » Habt ihr eine Idee, warum so viele Soldaten in diesem Wald umkamen? Warum der einzige Überlebende verrückt wurde? « Mr Miles klopfte auf die Tafel. » Wir wollen gemeinsam überlegen. Her mit den Vorschlägen– dumme oder falsche Ideen gibt es nicht, beim Brainstorming ist alles erlaubt. «
    Mr Miles schrieb die Wörter in schneller Folge, so wie die Schüler sie ihm zuriefen: Hinterhalt, Spezialkommandos, bewaffnete Zigeuner und Fallen an die Tafel. Und als wir lockerer wurden und an das bevorstehende Halloween dachten, kamen noch Geister, Vampire und Werwolf auf die Liste. Mr Miles hielt inne. Ein paar Mädchen kicherten und auch ein paar Jungs in der letzten Reihe lachten leise.
    Mr Miles sagte: » Es dürfte euch interessieren, dass der überlebende Soldat im Verhör behauptete, aus den Bäumen seien Gegenstände geflogen und riesige Wölfe seien aus der Dunkelheit aufgetaucht. «
    Das Kichern wurde von Bemerkungen wie » Unmöglich « und » Uhhh « abgelöst.
    » Uhhh. « Mr Miles lächelte. » Klar, dass sie ihn weggesperrt haben. Und jetzt schauen wir uns mal diese Liste an… « Er drehte sich zur Tafel um. » Wir haben hier eine Reihe interessanter Vorschläge. Ich möchte aber ein paar Dinge erklären… «
    Spezialkommandos gab es in dieser Region keine, und auch wenn es einen Hinterhalt gegeben hätte, hätten die Roma kaum genug Waffen besessen, um so viele bewaffnete Soldaten zu töten.
    » Diese Punkte gehören, so absurd das klingen mag, auf unsere Liste der Unmöglichkeiten « , bemerkte Mr Miles und umkringelte die beiden Wörter mit roter Kreide. » Und wenn das Unmögliche erst einmal ausgeschlossen worden ist, entspricht der Rest, so unwahrscheinlich er auch sein mag, meist der Wahrheit. «
    Bei den Wörtern Geister, Vampire und Werwolf hielt er inne. » Nur einen Begriff würde ich verändern. « Er wischte die zweite Silbe von Werwolf aus und machte daraus Werwölfe. » Überlegt mal… falls es überhaupt Werwölfe gäbe « – er zwinkerte– » würden sie nicht in einem sozialen Gefüge leben, das irgendwo zwischen Wölfen und Menschen angesiedelt ist? Würden sie nicht möglichst in Gruppen jagen und agieren? «
    » Moment– wollen Sie etwa damit sagen, dass die SS von Ungeheuern besiegt wurde? « , rief jemand von hinten.
    » Ganz genau « , sagte Mr Miles und grinste. » Die SS wurde von Ungeheuern vernichtet. Vielleicht nicht von Ungeheuern wie Werwölfen, Vampiren oder Geistern. Überlegt mal. Die SS war durchsetzt– und wurde geführt– von einigen der grausamsten Ungeheuer der Geschichte. Und das waren alles Menschen. «
    » Also, was ist in dem Wald wirklich geschehen? « , fragte jemand.
    Mr Miles zuckte die Achseln. » Wer weiß. Die Geschichte ist nicht tot, solange sich die Lebenden Gedanken darüber machen. Und jetzt « , er zeigte auf die Uhr, » wird es gleich läuten. « Und schon läutete es und die Schüler erhoben sich von ihren Plätzen. » Nicht vergessen. Heute habt ihr eure Sozialpraktika. Nach dem Unterricht werdet ihr von Kleinbussen abgeholt. Seid pünktlich! «
    Pietr war bereits aufgesprungen.
    Mr Miles blätterte seine Unterlagen auf dem Lehrerpult durch und sagte dann: » Ach, Pietr. Du gehst bei Jessie mit. In ihrer Gruppe ist noch ein Platz frei. «
    Pietr nickte schicksalsergeben. Ich dagegen war so frustriert, dass ich beinahe meine Stirn gegen die Tischplatte rammte.
    Ich schob meine Bücher und Papiere zusammen und stopfte sie achtlos in meinen Rucksack. Ich schielte nach der Uhr. Mein Sozialpraktikum war der einzige Ort, wo ich alles, was geschah und was geschehen war, vergessen konnte. Ich war für das Pflege- und Altenheim Goldener Oktober eingeteilt. Dort wimmelte es von Leuten, die doppelt so alt wie meine Eltern waren– wie mein Vater, verbesserte ich mich in Gedanken. Dort gelang es mir, mir vorzustellen, dass
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