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Zwischen Mond und Versprechen

Zwischen Mond und Versprechen

Titel: Zwischen Mond und Versprechen
Autoren: Shannon Delany
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eine Lehre sein, wenn er im Schulgebäude umherirrte. Jetzt brauchte ich nur noch den Bleistift…
    Die anderen nahmen ihre Plätze ein. Ich hörte die Stühle ächzen und knarren, obwohl ich meinen Kopf fast in meiner Tasche versenkt hatte.
    Jemand klopfte auf meinen Tisch.
    » Was ist? « , fragte ich, ohne aufzusehen. Jemand setzte sich neben mich. Ich richtete mich auf und sah Pietr neben mir, der mir einen Bleistift reichte.
    Wütend fuhr ich mit der Hand ein letztes Mal in die Tasche und– aha! Da war der Stift. Ich hielt ihn triumphierend hoch.
    Mr Miles sprach mit donnernder Stimme: » Wer dieses Schwert aus dem Stein– nein, den Bleistift aus der Tasche– zu ziehen vermag, der ist… « Er legte eine dramatische Pause ein und legte die Hand ans Ohr, damit wir den Satz ergänzten.
    » Gut vorbereitet « , schlug Pietr vor, ohne seinen Blick von mir abzuwenden.
    Mein Grinsen schmolz unter meiner Glutröte.
    Mr Miles lachte. » Nicht schlecht. Pietr, nicht wahr? «
    Pietr nickte.
    » Sehr gut. Deine Familie ist schon Schulgespräch. Hier ist eben sonst nicht viel los. « Mr Miles klatschte in die Hände. » Heute werden wir uns mit einem der Rätsel des Zweiten Weltkriegs beschäftigen. Moment! Bevor das allgemeine Stöhnen beginnt, möchte ich daran erinnern, dass in der Folge des Zweiten Weltkriegs vielen Ländern eine neue Rolle zugewiesen wurde, die sie bis heute einnehmen. Obwohl dieser Krieg noch nicht sehr lange zurückliegt– ich weiß, ich weiß, das ist eine Ewigkeit und ein Tag her, für euch, ihr Grünschnäbel. « Er stieß das Wort mit einem scherzhaften Schnauben aus, bevor er mit einem Zwinkern fortfuhr. » Es gibt Bereiche, die von uns Historikern immer noch mit Spannung erforscht werden. Die Geschichte ist nicht tot! « Er ließ seinen Blick über die Schüler schweifen und lächelte: » Nun, nach dieser Werbung in eigener Sache, dürft ihr alle stöhnen. «
    Was auch alle taten, außer Pietr und ich. Pietr sah erst Mr Miles und dann mich an, um meine Reaktion zu beurteilen. Ich kann aufrichtig behaupten, dass Geschichte eines meiner Lieblingsfächer war. Mr Miles hat so eine ironische, schrullige Art, ich verstand ihn so gut wie keinen anderen Lehrer. Er betrachtet die Dinge von allen Seiten– selbst von den unwahrscheinlichsten. Genau wie ein guter Reporter. Ich schlug meinen Block auf und bereitete mich auf einen ausführlichen Aufschrieb vor.
    Mr Miles drehte sich um und kritzelte Porajmos auf die Tafel. » Mit diesem Wort wird der Völkermord an den Roma während des Zweiten Weltkriegs bezeichnet. Es bedeutet so viel wie › Das Verschlingen ‹ . Wir haben uns schon ausführlich mit dem Krieg, dem Holocaust und seinen Opfern beschäftigt. Heute aber wollen wir uns einer seiner Merkwürdigkeiten zuwenden… «
    Er schrieb: Den Wald fürchten. » Der Mensch hat immer versucht, die Wildnis zu bändigen. Wir fällen uralte Wälder und verwüsten ganze Landstriche durch den Tagebau…wir besitzen eine instinktive Furcht vor wilden Orten und wilden Tieren. Wir haben sie immer wieder gezähmt, damit wir uns sicherer fühlen. Diese Urangst hat Einfluss darauf, wie wir leben und wie wir uns in unbekannten Situationen verhalten. «
    Pietr begann leicht mit dem Fuß zu wippen. Er sah Mr Miles an, dann die Uhr, dann seine Notizen. Dann die Uhr, dann seinen Aufschrieb und dann Mr Miles.
    Mr Miles erzählte, dass Hitler Vernichtungskommandos gegen die letzten überlebenden Roma und Juden aussandte und dass seine Truppen sich einmal nicht trauten, einen bestimmten Wald zu durchqueren, weil es dort angeblich spukte. Die SS war nämlich abergläubisch. Doch Hitler kannte kein Nein und zwang sie, in den Wald zu gehen.
    Pietr zappelte immer noch herum. Er mochte die Gabe haben, Mädchen anzuziehen, aber er hatte auch die Gabe, einen nervös zu machen. Sein Bein begann zu wackeln und dann fing er auch noch an, mit den Fingern der einen Hand leise auf den Tisch zu trommeln, während er mit der anderen Hand schrieb.
    » Pietr « , ermahnte ich ihn.
    Er hörte auf und konzentrierte sich wieder auf seinen Aufschrieb. Sechs volle Minuten lang.
    Mr Miles erzählte, dass nur zwei Soldaten überlebten, von denen einer kurz darauf starb. Ihre Berichte waren so verworren, dass man den einzigen Überlebenden schließlich ins Irrenhaus steckte.
    Pietr tappte schon wieder mit den Füßen. Ihm täte ein Aufenthalt im Irrenhaus vielleicht auch gut. Dort wäre es wahrscheinlicher auch ruhiger als hier. Ich seufzte und
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