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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten
Autoren: Michael Wallner
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fuhren in seinem Wagen aus, freuten sich über die Geschenke; Ingas Rolle in dem Quartett wurde nicht näher benannt und lächelnd übersehen. Aus diesem Grund hatten die Eltern auch nichts dagegen, daß Henning die Tochter sonnabends ausführen sollte.
    Eine neue Bar habe aufgemacht, sagte er, sehr verschwiegen, am Stadtrand, dort könne man tanzen. Inga ging im Geist ihre Kleider durch, keines, das ihr einfiel, paßte in eine Bar. Henning streichelte ihre Hüfte, sein Satz kam rasch und leise.
    Â»Du bist so jung.« Dabei zog er die Hand unter der Bluse hervor, gleich wurde die Haut dort kalt. Sie sprachen nicht mehr, Inga kannte das, wenn Henning trübe zumute wurde, wegen ihrer Situation. Er verabschiedete sich und ging, ohne Marianne und Erik begrüßt zu haben. Mit dem Lamm in der Dunkelheit fühlte Inga sich nicht mehr wohl, wünschte plötzlich, den Abend mit den Eltern zu verbringen. Sie legte das Tier aufs Lager und schob Stroh darüber; ging hinein und bot an, beim Kartenspiel den dritten Mann zu machen.
    Â 
    Am nächsten Samstag, kurz vor sieben, sagte Henning ab. Gemeinsam mit Marianne stand Inga im Schrankzimmer, sie wollten ein rosa Getupftes finden. Erik richtete die Nachricht aus.
    Â»Einer der Jungs ist krank. Es tut ihm leid.«
    Sie suchten nicht weiter nach dem Kleid. Den Winter über hatten die Jungs ständig Krankheiten gehabt, es war Hennings häufigste Ausrede, er brach Versprechen zu leicht. Inga war wütend, sie wünschte sich ihren Samstag – auch ohne ihn – und ging nach unten, um die Schuhe zu wechseln.
    Auf der Straße nahm sie die Richtung zum Schloßpark, hatte
Lust, über die Krokuswiese zu laufen, bis ihr einfiel, daß sich an solch einem Abend alle zum Schloß aufmachten. Sie wandte der Stadt den Rücken und ging in die Weiden hinaus. Das erste Grün hatte das Wintergras besiegt, nur um die Teiche hing noch schlaffbraunes Schilf. Wie ein unbehauener Block stand der Turm der Kirchenruine gegen den Himmel. Sechs Bäume zählte Inga in der Weite; wären sie nicht gewesen, hätte man gemeint, auf einem grünen Meer zu gehen. Am Horizont tauchten Schafe auf, viele Lämmer waren darunter. Sie wechselte die Richtung. Obwohl das Licht schwand, lief sie nach Norden, folgte dem Straßenband zwischen den Wiesen, die mit jeder Minute blauer wurden.
    Dort zeigte das Erlengehölz die Kreuzung an, von wo man zur Linken nach einer halben Stunde das Gefängnis erreichte. Ingas Vater hatte sich seine besten Sachen dorthin bringen lassen; selbst in der Zelle verbat er sich jede Nachlässigkeit. In Anzug und Krawatte war er von Wand zu Wand gegangen, trug die grauen Schuhe, deren Leder er täglich aufrauhte, und erschien zu den Vorträgen der Engländer als vollkommener Gentleman. Er wirkte so elegant, als sei er nicht der Belehrte, dem die Ideologie ausgetrieben wurde, sondern lediglich ein Beobachter der Entnazifizierung. Als er bügeln wollte, lachten ihn die Wärter aus, ließen ihn aber schließlich doch in die Wäscherei. Bis zum Verfahren nannten sie ihn den bügelnden Nazi. Bevor er entlassen wurde, zeigte der Vater einem von ihnen, wie man den Hemdkragen vor dem Bügeln umschlug, um die perfekte Linie zu erhalten.
    Papiere, die bei der Durchsuchung nicht gefunden worden waren, hatte Erik verbrannt, die Bilder aber hob er auf. Er hatte sie Inga gezeigt, ohne Stolz oder Scham, es waren eben seine Bilder. Sie lagen auf dem Speicher, und auch wenn die Frauen es sich wünschten, redeten sie Erik nicht zu, sie zu vernichten. Man hatte ihn damals gerne in der Partei aufgenommen, er war groß, die scharfe Nase, das kräftige Kinn; in der Goldfasan -Uniform sah er stark aus und offiziell. Auf keinem der Photos trug Vater die Brille, obwohl er ohne sie praktisch blind war. An ihm saßen Gurte und Tressen
einwandfrei, faltenlos die braune Brust, der Krawattenknoten bildete das perfekte Dreieck. Es gab kein einziges Bild, auf dem Marianne zu sehen war. Sie hatte es nicht mit der Zugehörigkeit, erklärte er. Inga fiel ein, daß die Mutter immer in halben Sätzen von der Partei sprach, nicht wegwerfend, nur so, als sei ihr nie viel dazu eingefallen. Es war eben seine Zeit, sagte sie, um solch ein Gespräch zu beenden.
    Inga blieb stehen – unwillkürlich hatte sie die Richtung zum Lager eingeschlagen und war nun schon so nahe, daß sie im Zwielicht die
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