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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten
Autoren: Michael Wallner
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Leutnants, der fuhr zusammen, sie hatte das verwundete Knie berührt. Ohne die Stufen zu nehmen, sprang sie ins Gras, rannte zurück, schlug den Weg zum Casino ein, ertrug es nicht, irgendwem zu begegnen, lief in den Wald und beugte sich hinter dem Munitionsdepot erschöpft über den Hydranten.

4
    D as Lamm bewegte sich nicht, als sie den Schuppen betrat. Es lag auf dem Stroh, die Beine angezogen, der Kopf kraftlos hintüber geknickt. Schaufeln und Harken waren beiseite geräumt, die Stangen, an denen Vater die Bohnen hochband, lagen gebündelt in einer Ecke. Inga hatte die Schubkarre gegen die Wand gekippt, das Stroh zum Nest aufgehäuft. Ein guter Stall für ihr Lamm – aber es war heute noch weniger imstande zu fressen als gestern. In Tropfen ließ Inga Kondensmilch an sein Maul, die rann die Wunde entlang und versickerte im Stroh. Sie setzte sich, hob den kleinen Kopf in den Schoß und erzählte von ihrem endlosen Nachmittag, der Strandtasche, dem bauschigen Mantel des Fremden. Sie streichelte das Tier, sein Atem ging so schwach, daß sich der Bauch kaum hob. Sie wußte nicht, weinte sie aus Enttäuschung, oder weil ihr Lamm starb. Ingas Tierliebe war allumfassend. Sprang ein Fuchs aus dem Unterholz, flitzte irgendwo eine Maus oder kreuzte eine Katze ihren Weg, verharrte Inga und flüsterte den Tiernamen wie eine Beschwörung. Frösche, Spinnen, Vögel – kein Pferd am Weidenrand, mit dem sie nicht plauderte. »Komm, Pferd«, sagte Inga so lange, bis der Klepper näher trabte und sich streicheln ließ.
    Sie erkannte das Motorgeräusch von weitem. Während der Wagen näher kam, hielt, die Tür geöffnet und sachte geschlossen wurde, gestand sie sich ein, wie sehr Hennings Besuch sie freute. Er setzte seine Schritte behutsam, wollte nicht, daß die Eltern ihn hörten. Inga wischte die Hand ab, die feucht von Milch und Speichel war, strich den Rock glatt, zog den Kniestrumpf gerade. Hennings
Gang zum Haus – jetzt spähte er um die Ecke, sah, daß ihr Fenster dunkel war, er wußte, wo er sie fand. Je länger er brauchte, desto unruhiger wurde sie.
    Seine Hand schob sich um die Bretter, er stand über ihr und erkundigte sich nach dem Schaf. Inga sagte, sie wisse nicht, wie sie dem Lamm beim Sterben helfen sollte.
    Henning kam auf die Knie. »Ich kann so etwas nicht.«
    Â»Die Eltern sind böse, wenn es nicht ordentlich geschlachtet wird.«
    Â»Ostern«, nickte er. »Viel Fleisch ist nicht dran.«
    Er setzte sich, gemeinsam streichelten sie das Tier. Den anderen Arm legte er um Ingas Schulter, erzählte von seinem Tag in der Möbelfabrik. Die Auslieferung war ins Stocken geraten, weil es für den Laster keine Ersatzteile gab; mit dem Pritschenwagen brauchten sie zweimal so lang. Inga sah das viele Holz vor sich, zum Trocknen gestapelt, die Maschinen mit den langen Sägeblättern, Henning hatte ihr die Küchen gezeigt, die sie dort bauten, neue Küchen mit schönen glatten Oberflächen – Du kannst dir jede Farbe aussuchen -, er hatte ihr den Katalog mit den quadratischen Holzplättchen vorgelegt, Dutzende, von Schwarz bis Weiß. Sie waren abends hinausgefahren, als die Fabrik geschlossen war; Henning zeigte ihr auch das Büro seiner Frau. Trude machte die Einteilung, führte die Bücher, überwachte die Auslieferung – er sprach stets voll Hochachtung von ihr. Die Photos der Jungs hatten auf Trudes Schreibtisch gestanden.
    Henning tastete nach Ingas Schulterblatt, spielte mit den Wirbeln, seine Hand wanderte den Rücken hinunter. Ohne Hast zog er die Bluse aus ihrem Rock und berührte die nackte Hüfte. Sie wollte in sein Haar fassen, das Lamm war dazwischen; es machte einen unruhigen Atemzug. Lächelnd zeigte er zu den Gartengeräten, hier werde Erik nun bald wieder mit grüner Hand regieren.
    Henning und der Vater waren nur wenige Jahre auseinander, sie verstanden sich blendend. Marianne genoß Hennings Aufmerksamkeit, er brachte Zucker vorbei, Senfpulver und Rosinen, klapperiges
Mobiliar nahm er mit und reparierte es in der Firma umsonst. Beinahe täglich machte er den Umweg zwischen der Möbelfabrik und seiner Wohnung. Die beiden Familien hielt Henning streng voneinander getrennt. Inga wußte, warum, die Eltern vermuteten es. Niemand brachte das besondere Verhältnis zur Sprache. Erik und Mariannne begrüßten Henning als Hausfreund,
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