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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten
Autoren: Michael Wallner
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den regengefüllten Löchern kaum noch ein Durchkommen gab, verfinsterte sich sein Gesicht; bemerkte er jedoch Ingas Blick im Rückspiegel, trat er aufs Gas, daß es spritzte, dabei lachte er über Mariannes ängstliche Rufe.
    Der Bauer gab Rote Beete heraus und Sellerieknollen, aber weder Kartoffeln noch Schnaps. Der Vater glaubte dessen Ausflüchte nicht, hatte jedoch keine Lust, mit der sperrigen Uhr wieder heimzufahren. Er bestand auf einem ordentlichen Stück Fleisch. Der Bauer sagte, er schlachte erst kurz vor Ostern. Da müßte man die weite Fahrt ein zweites Mal machen, schüttelte Erik den Kopf. Ein Lamm könne er gleich abgeben, lenkte der Bauer ein, es werde die Nacht nicht überleben. Obwohl die Schafe draußen weideten, ging er in den Stall und brachte ein junges Tier, es war blutig im Gesicht, ein Stück der Schnauze fehlte, die kleinen Zähne lagen bloß, es zitterte am ganzen Körper. Der Hund habe zugebissen, erklärte der Bauer und bot an, sofort zu schlachten.
    Â»Bis Ostern ist noch viel Zeit«, sagte Inga. »Bleibt das Fleisch denn so lange frisch?«
    Ihren Vater konnte sie täuschen, nicht aber Marianne. »Es leidet«, sagte die Mutter. »Siehst du das nicht?«
    Bis auf die Wunde sei es gesund, widersprach Inga. Der Bauer sah Erik an, die Entscheidung lag nun bei ihm.
    Â»Die Uhr ist wertvoll.« Durch die dicken Gläser wirkte sein Blick hilflos.
    Â»Das häßliche Ding hat nie einer gemocht!«
    Der Bauer hatte das Lamm abgelegt, es hörte die andern blöken, wollte aufspringen, aber die Hinterbeine gaben nach. Inga lief
hin und nahm es auf den Arm. Rund um den Biß dickte das Blut ein.
    Â»Du bist doch kein Kind mehr«, sagte die Mutter und spielte damit auf den Tag an, als Inga die Häsin freigelassen hatte. Wochenlang kein Stück Fleisch, im Radio nichts als Durchhalteparolen, und trotzdem war Inga in der Nacht, bevor Erik dem Karnickel das Genick brechen sollte, zum Stall geschlichen und hatte es aufs Feld getragen. Mehrmals mußte sie in die Hände klatschen, um das Tier zu verscheuchen, endlich verschwand es in der Finsternis. Marianne hatte Inga eine derart heftige Tracht Prügel versetzt, daß sie der Arm schmerzte, Erik war währenddessen stöhnend in der Küche auf und ab gelaufen.
    Â»Bis Ostern«, bettelte Inga.
    Â»Wer soll es schlachten? Wo soll es bleiben?«
    Diese Nacht, vielleicht die nächste, wiederholte der Bauer, dann sei es ohnehin vorbei. Inga versprach, Kondensmilch aus dem Lager zu besorgen, wartete den Widerspruch nicht ab und ging mit dem Tier zum Auto, vorbei am entschlußlosen Vater.
    Â»Warte.« Henning breitete eine Decke auf den Rücksitz. Sie sollte den Blick nicht bemerken, den er den Eltern zuwarf, liebevoll und verschmitzt zugleich. Inga drückte das Lamm an die Brust, es atmete in kurzen Stößen, ihre Bluse verfärbte sich.
    Mißgelaunt kam Marianne zum Auto. »Du und deine verdammte Tierliebe.« Beim Einsteigen hielt sie sich am Türrahmen fest.
    Der Bauer und Erik besiegelten das Geschäft per Handschlag, er trug die Speckseite zum Kofferraum, Henning folgte mit den Gemüsesäcken. Als Inga zurückschaute, mußte sie lachen – auf der morastigen Wiese, umringt von Schafen, stand die Pendeluhr.

3
    E s war das Standardkuvert, ohne Stempel,was bewies, daß es nicht über einen Schreibtisch gegangen war, sondern von Baracke zu Baracke. Ingas vollständiger Name stand da, und der Zusatz C . E . – für nichtmilitärische Angestellte. Inga schrieb die Beschwerde über verdorbenes Büchsenfleisch zu Ende, zugleich mit der grünen Mappe nahm sie den Brief und verließ das Büro. Auf halbem Weg zur Kommandantur bildeten fünf Föhren einen Kreis, Inga setzte sich in die Mitte und öffnete das Kuvert. Nur ein gefaltetes Blatt, aus einem Heft gerissen.
    Könnten Sie mir am Wochenende noch einen Gefallen tun?
    Sonst nichts, außer der Unterschrift – Alec Hayden .
    Sie ließ das Papier sinken, schaute auf ihre rote Sandale, der kleine Zeh war aus der Schlaufe geschlüpft und quetschte sich seitlich hervor. Wieso war sie sicher gewesen, der Brief stammte von ihm? Sie wippte mit der überzähligen Zehe – eine Zeile, nicht der Mühe wert, sie zu beantworten –, schob das Blatt in den Umschlag zurück und lief weiter zur Kommandantur.
    Zu Mittag aß Inga nichts
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