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Zweilicht

Zweilicht

Titel: Zweilicht
Autoren: Blazon Nina
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auf.
    »Nein, habe ich nicht«, sagte Jay zu ihr, nicht zu Sally, und stand auf. »Zehn nach zehn, Zeit fürs Projekt.«
    Das Verrückte an diesem Freitag war, dass ihm die Zwischenzeiten zu entgleiten schienen. Den Weg zum Kursraum hatte er wie im Halbschlaf hinter sich gebracht, aber als er jetzt tatsächlich neben Madison an einem Zweiertisch saß und die Gliederung durchging, war er plötzlich so wach, als hätte er einen Kaffeerausch.
    »Hier, nach diesem Abschnitt kommt deine Überleitung«, erklärte sie und tippte mit der Kulispitze auf Punkt drei der Gliederung. Sie nahm sein Schweigen wohl als Zustimmung, denn sie machte eine Notiz und redete weiter. Jay hörte ihre Stimme, aber die Worte glitten an ihm ab. Stattdessen musterte er sie verstohlen von der Seite, während er so tat, als würde er sich ebenfalls auf das Referat konzentrieren.
    Eigentlich kein guter Zeitpunkt, Jay , dachte er, während er ihren Mund betrachtete und das Haar, das er gerne berührt hätte. Du schwebst im Nichts, du hast keine Ahnung, wie es weitergeht. Willst du es wirklich bei ihr versuchen?
    Was eine blödsinnige Frage war, schließlich hatte er sich nur wegen Madison für dieses langweilige Projektthema eingetragen. Dabei machte sie ihm nicht gerade Hoffnungen, dass sie ihn überhaupt leiden konnte. Es war seltsam: Trotz ihrer kühlen, ablehnenden Art mochte er sie, und obwohl er so gut wie gar nichts über sie wusste, hatte er das Gefühl, sie hätten etwas gemeinsam. Und er wollte um jeden Preis herausfinden, was es war.
    »Du starrst mich an«, sagte sie leise, ohne aufzublicken. »Überlegst du gerade, aus welchem Reservat ich stamme?«
    »Was? Nein, ich …«
    Sie winkte genervt ab. »Ist schon gut. Du bist nicht der Erste, der mich für eine Stadtindianerin hält. Falls du es genau wissen willst, ich habe tatsächlich Indianerblut. Aber so spannend ist die Geschichte nicht. Mein Großvater war zwar ein Lakota. Aber er lebte in New York, wie sehr viele Indianer übrigens. Meine Mum wurde in Queens geboren und mein Vater ist Halbkoreaner aus New Jersey.« Sie machte eine Pause, offenbar in der Erwartung, dass Jay etwas dazu sagte, sich vielleicht sogar entschuldigte. Aber er schwieg. Es hatte seine Vorteile, nicht zu den großen Rednern zu gehören: Man wusste genau, wie man schweigt. Und vor allem, wann.
    Dass sein Instinkt ihn auch diesmal nicht trog, merkte er daran, dass sie ihm nach einer Weile einen irritierten Seitenblick zuwarf. »Du kannst dir vorstellen, dass es nicht witzig war, in jeder Thanksgiving-Aufführung in der Schule immer die Quotenindianerin zu sein«, fuhr sie fort. »Früher nannten mich sogar die Lehrer Pocahontas.« Es sollte ironisch klingen, abgeklärt, eine witzige Anekdote aus der Kindheit.
    Aber er würde ganz sicher nicht in die Falle tappen und über den vermeintlichen Scherz lachen, den sie ihm so routiniert als Köder hinhielt.
    »Das ist ungefähr so witzig, wie mich Kraut zu nennen«, antwortete er nur trocken. Dann wandte er sich ohne Umschweife seiner Arbeit zu. Für einige Momente war Madison verdutzt, dann legte sie den Stift hin und wandte sie ihm zu. Fast konnte er hören, wie das Eis zwischen ihnen einen ersten, hauchfeinen Riss bekam.
    »Du sprichst wirklich gut«, stellte sie mit leicht gönnerhaftem Unterton fest und verschränkte die Arme. »Sogar der Akzent geht eigentlich.«
    Jay zuckte die Schultern. »Meine Mutter … Charlie ist Fachübersetzerin für Englisch. Und mein Vater stammt ja aus New York. Aber das habe ich euch ja schon bei meiner Vorstellung am Dienstag erzählt.«
    »New York ist groß. Aus welchem Teil kommt dein Vater genau?«
    »Williamsburg, mein Onkel hat hier eine Motorradwerkstatt. Ich wohne bei ihm.«
    Ihr linker Mundwinkel zuckte nach oben. Es war fast ein Lächeln. Aber nur fast. »Dann gehörst du ja wirklich zu uns Brooklynites.«
    Jay schwieg wieder. Der Ball war bei ihr, und er würde warten, bis sie ihn wieder zurückspielte. Auch wenn es bedeutete, dass die Pause unangenehm lang wurde. Sie sahen sich ein, zwei Sekunden in die Augen, dann schaute Madison hastig weg. Ihr Blick fiel auf seine Unterlagen, die rechts am Tischrand lagen. Ausgefüllte Kurs- und Stundenpläne und die Anmeldungen, auf denen die steile, ungelenke Unterschrift seines Onkels prangte.
    »Darf ich deinen Kursplan sehen?«
    Jay nickte. Als sie sich vorbeugte, fiel ihr Haar über die Schulter, eine dunkle Strähne strich über seine Hand. Das seltsame Gefühl von
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