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Zweilicht

Zweilicht

Titel: Zweilicht
Autoren: Blazon Nina
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Freundin zögerte, dann lief sie voraus. Einen Augenblick hatte Jay gute Lust, Madison stehen zu lassen. Noch hatte er nichts zu verlieren. Aber sie sah ihn immer noch herausfordernd an. Nun, wenigstens konnte er seine Ehre retten.
    »Eigentlich wollte ich von dir nur wissen, wie ich zum McCarren-Park komme«, meinte er betont gleichgültig. »Da findet mein Trainingsspiel statt. Ich wollte mir das Spielfeld ansehen. Und außerdem kenne ich mich in der Gegend noch nicht aus.«
    Was so nicht stimmte. Er kannte zumindest den Stadtplan von Brooklyn auswendig. Schon in Berlin hätte er jede Straße mit geschlossenen Augen aufzeichnen können. Viel zu sehr hasste er es, etwas so Wichtiges wie Wege dem Zufall zu überlassen.
    Mit Genugtuung bemerkte er, dass die stolze Madison errötete, als sie die Botschaft verstand.
    »Kommst du, Maddy?«, rief ihre Freundin, die bereits auf der Treppe zur U-Bahn-Station stand. Madison nickte ihr zu, dann winkte sie Jay, ihr zu folgen. »Dann nimmst du am besten die Bahn.« Das klang wieder sehr sachlich. »Ich sage dir, wo du aussteigen musst. Ich muss zufällig in dieselbe Richtung.«
    Ich weiß. Sally ist weitaus gesprächiger als du und hat mir verraten, dass du hinter dem Park wohnst. Aber nach ihrem Spruch von vorhin würde er sich natürlich eher Polsternägel in die Hand hauen, als das jemals vor ihr zugeben.
    »So ein Zufall«, sagte er nur. Sie ging zur Treppe. Jay machte keine Anstalten, ihr zu folgen. »Worauf wartest du? Die Bahn kommt in einer Minute!«
    »Warum gehen wir nicht zu Fuß?«
    »Laufen?« Madison wirkte, als hätte er vorgeschlagen, auf die Postkutsche zu warten.
    Komm schon , beschwor Jay sie in Gedanken. Gib mir endlich eine Chance!
    Sie biss sich auf die Unterlippe und schien zu überlegen. Das Surren und Quietschen der bremsenden U-Bahn drang bereits durch das Gitter des Lüftungsschachts.
    »Maddy!«, rief die Freundin genervt. Dann schnaubte sie und verschwand im U-Bahn-Tunnel. Madison sah ihr nach. Er hätte gewettet, dass sie nun gehen würde, aber zu seiner Überraschung wandte sie sich ihm zu und sagte einfach: »Okay.«
    Es war, als hätte man ein Spiel mit nur einem Wurf gewonnen – entgegen der Gesetze der Physik.
    Eine Weile liefen sie nur schweigend nebeneinanderher. Der Weg führte sie nicht durch das zum Himmel strebende, junge New York, sondern durch Williamsburg, den Teil der Stadt, der sich zu ducken schien. Hier waren die Häuser nur wenige Stockwerke hoch. Zum Großteil waren sie aus rotem Sandstein erbaut, schmale Schmuckstücke mit Giebeln und Flachdächern. Kleine Läden säumten die Straßen. Bunte Kioske, wie man sie aus Filmen kannte, koreanische Lebensmittelgeschäfte und Wäschereien, die alle »Chinese Laundry« genannt wurden, obwohl oft genug Mexikaner darin arbeiteten. An einer Ecke verkaufte ein glatzköpfiger Mann Klopapier mit dem Gesicht von Osama bin Laden. Eine Straße weiter diskutierten ein paar jüdische Männer mit schwarzen Hüten und langen Schläfenlocken miteinander.
    »Du hältst mich sicher für ganz schön arrogant«, sagte Madison nach einer Weile.
    »Schon möglich.«
    Sie warf ihm einen überraschten Seitenblick zu.
    »Andererseits kenne ich dich ja gar nicht«, fügte Jay hinzu.
    »Du kommst aus Berlin, nicht wahr?«, fragte sie nach einer Weile weiter. »Warum machst du ein Austauschjahr?«
    Kein Austauschjahr. Ich bleibe hier. Nur weiß Charlie es noch nicht .
    »Als ich zehn war, habe ich meinen Vater hier besucht. Und seitdem wollte ich einfach immer hierher.«
    »Ausgerechnet nach Brooklyn?«, fragte sie spöttisch. »Als Gastschüler kannst du es dir doch aussuchen. Warum gehst du nicht in eine der besseren Schulen in Manhattan?«
    »Was ist an unserer High auszusetzen?«
    Sie schnaubte, als hätte er einen Witz gemacht. Jetzt wirkte sie wieder ein wenig überheblich. Aber diesmal ließ er sich nicht davon beeindrucken, sondern zeigte in Richtung East River.
    »Über den Fluss hinweg sieht man das Empire State Building. Mehr Manhattan braucht kein Mensch. Auf unserer Flussseite ist es viel schöner.«
    »Klar. Alte Industriebauten und abgeschabte Häuser.«
    »Lach nicht. Ich meine es ernst. Schau nach oben. Hier gibt es keine Hochhausschluchten. Dafür kann man viel Himmel sehen.«
    Sie folgte seinem Blick und atmete tief durch. »Stimmt«, sagte sie nach einer Weile verwundert. »So habe ich das noch nie betrachtet. Der Himmel.«
    Jetzt wusste er, wie ein echtes Lächeln bei ihr aussah: Sie hatte
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