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Zweilicht

Zweilicht

Titel: Zweilicht
Autoren: Blazon Nina
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Zweige knackten. Night kletterte gerade am Baum in Richtung Boden. Das letzte Stück überbrückte sie mit einem Sprung. Mo hörte einen raschelnden Aufprall, dann die tiefen, rauen Stimmen von Coy und Ban. Die beiden hatten vor dem Haus gewartet, jetzt begrüßten sie Night. Irgendwo weit entfernt bellte ein Tier.
    »Kommst du endlich?« Ihre Schwester saß auf dem Fensterbrett und wartete voller Ungeduld. Die Spiegelung des Monds fing sich in ihrem rechten Auge – eine flirrende helle Insel in einem dunklen See. »Beeil dich. Es wird schon bald hell.«
    Mo wollte gehorchen und setzte sich in Bewegung. Der Boden war hart und kalt, ganz anders als die federnde Erde der Wälder. Sie ertappte sich dabei, wie sie schlich, ängstlich darum bemüht, den Untergrund so wenig wie möglich zu berühren. Sie war schon fast beim Fenster, als sie nicht mehr widerstehen konnte und sich doch noch einmal umsah. Es war seltsam, aber den Jungen zu betrachten, war, wie mit offenen Augen in den Mond zu blicken. Beruhigend, sanft – und in ihrem Inneren flatterte etwas Warmes, Helles, irgendwo zwischen Brust und Kehle.
    »Was denkst du, Cinna, sehen seine Augen aus wie meine? Oder hat er blaue Wendigo-Augen?«
    »Warum interessiert dich das?«
    »Ich … weiß nicht. Ich will es einfach wissen.«
    Ihre Schwester schnaubte nur verächtlich.
    »Glaubst du, er träumt vielleicht doch?«, fragte Mo weiter.
    »Die träumen doch alle«, gab Cinna ungeduldig zurück. »Und wir haben dann die Gespenster dieser Träume am Hals. Am besten bitten wir Ban, ihm das Genick zu brechen, dann haben wir eine Sorge weniger.«
    »Nein!« Mo wich zum Lager des Jungen zurück und stellte sich schützend vor ihn.
    Ihre Schwester lachte. »War doch nur Spaß, Bernstein. Glaubst du im Ernst, der Alte würde den da anfassen wollen? Glaub mir, er hält nichts von Menschenfleisch.«
    Mo schauderte dennoch. Natürlich war ihr das Schicksal von Menschen völlig gleichgültig, aber die Vorstellung, dass diesem einen hier etwas geschehen könnte, löste eine nie gekannte Unruhe in ihr aus.
    »Und jetzt komm«, schnappte Cinna. »Ich hasse diese Gegend, ich kann Häuser nicht ausstehen. Und dieses hier ist eine richtige Fallgrube voller Träume. Als würde der Kerl da drüben sie einfangen und sammeln.« Jetzt konnte sie kaum noch verbergen, wie viel Furcht sich hinter ihrer Grobheit verbarg.
    Aber Mo hatte sich bereits vom Fenster abgewandt und schlich auf leisen Sohlen zum Lager zurück. Der tiefe Schlaf machte den Jungen wehrlos. Und dennoch – so nah war sie noch keinem Menschen gekommen. Furcht flirrte über ihre Haut, ein sachter Schauer von Gefahr – und auch ein Hauch von Tod. Die wispernden Stimmen wurden deutlicher, raunten und lachten. Es schienen freundliche Worte zu sein.
    Handy. Frühstück. Onkel. Dreamcatcher.
    Mo gab ihm nach, nur einen Moment – und schon trieb sie schwerelos und staunend in diesem Strom fremden Lebens. Der Junge holte tief Luft, und Mo ertappte sich dabei, wie sie es ihm gleichtat. Ein paar Atemzüge atmeten sie im Gleichtakt und es war wie eine eigene Magie.
    Ob seine Haut warm ist?
    »Mo, nicht!«
    Aber heute gehorchte sie der Älteren nicht. Obwohl sich alle Härchen an ihrem Körper sträubten, ließ sie sich unendlich vorsichtig neben dem Jungen nieder. Sacht, als könnte ihre Gegenwart ihn tatsächlich wecken, legte sie sich neben ihn. Der erstickte Entsetzenslaut ihrer Schwester beunruhigte sie nicht. Dafür fühlte sich seine Nähe viel zu sicher an – und auf eine fremde Weise richtig. Mutiger geworden – und natürlich auch, um Cinna noch etwas mehr zu ärgern – schmiegte sie sich an den Jungen und lehnte ihre Stirn gegen die pochende Stelle direkt unter seiner Kieferlinie. Ihr wurde so schwindelig, dass sie die Augen schließen musste. Mit leisem Rascheln fuhren ihre Wimpern über seine Haut. Es musste ihn kitzeln, aber er erwachte nicht.
    Er duftete nicht nach Gewitter und sonnenwarmen Blättern, sondern nach etwas Frischem, nach Tau und Verheißung. Schatten der Träume, die durch seinen Schlaf irrten, spiegelten sich hinter ihren geschlossenen Lidern. Es waren ruhelose, grelle Erinnerungen an Tageslicht und einen blauen Himmel, an Stahl und Glas und Mädchenlachen.
    Mädchen.
    Das gab ihr einen Stich. Und auch diesmal wusste sie nicht, warum. »Er träumt tatsächlich«, murmelte sie verwundert. »Von einem Mädchen, das er kennt. Sie hat langes schwarzes Haar und etwas, das er Indianeraugen nennt. Er
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