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Zweilicht

Zweilicht

Titel: Zweilicht
Autoren: Blazon Nina
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das an seiner Lippe haftete, und segelte zu Boden. Linoleumboden. Ziemlich schäbiges Grau. Das Wiedererkennen kam nur langsam, ein sachliches Sammeln von Koordinaten: rechts ein Getränke-automat, daneben eine Glastür, Tische und mintgrüne Plastikstühle, die bestimmt noch aus den Achtzigern übrig geblieben waren. Ein paar Schüler an den anderen Tischen, amerikanische Satzfetzen. New York , Williamsburg, dachte Jay. Highschool, fünfter Tag. Ich sitze im Aufenthaltsraum, den sie hier »Common« nennen, und gleich beginnt meine Arbeitsstunde mit der Projektgruppe. Willkommen in meinem neuen Leben.
    Ein Mädchen aus seinem Mathekurs grinste ihm vom Nebentisch aus verschwörerisch zu, während es seinen Rucksack über die Schulter hängte, aber die anderen schienen sein Minutenkoma nicht bemerkt zu haben. Zum Glück waren die Mädchen aus seinem Kurs noch nicht da. Jays Blick fiel auf die Tischplatte. Sie war total vollgekritzelt. Bestimmt zeichneten sich auf seiner Wange jetzt in Spiegelschrift die Worte Barney sucks! ab, die irgendein Schüler in die Tischplatte gekratzt hatte. Klasse. Verlegen rieb er sich über die Wange, dann bückte er sich und hob das Blatt auf. Ein Paar Sneakers kam in sein Blickfeld. Schätzungsweise Größe 48. Zumindest hier wusste er sofort, wen er vor sich hatte.
    »Hi Alex«, sagte er und richtete sich auf. Alex grinste. Auch heute hätte er als Hochglanzreklame für irgendein Sportler-College durchgehen können. Manche seiner Mitschüler hätten alles dafür getan, um in sein Team zu kommen, aber Alex machte keine große Sache daraus. Eitelkeit schien ihm völlig fremd zu sein und genau deshalb mochte Jay ihn.
    »Und? Bist du dabei?« Alex deutete auf die Spielerliste in Jays Hand.
    Jay musste sich räuspern, so rau fühlte sich sein Hals an. Vermutlich waren das immer noch die Nachwirkungen von der Klimaanlage im Flugzeug, vielleicht lag es aber auch daran, dass Onkel Matt der Meinung war, eine funktionierende Heizung sei etwas für Weicheier.
    »Klar«, brachte er dann mit heiserer Stimme hervor.
    Alex grinste noch etwas breiter und beugte sich vor. »Gut. Ich hoffe, du hast Kondition. Bei mir wird nämlich richtig gespielt.«
    Jay zog nur ironisch den Mundwinkel hoch.
    Alex verstand die Geste – Herausforderung angenommen – und nickte. »See you, Kraut«, sagte er mit gespielter Arroganz.
    Kraut – ein leicht abfälliger Begriff für Deutscher. Was fast schon wieder lustig war in Anbetracht der Tatsache, dass Jays Freunde in Deutschland ihn The Ami nannten, wenn sie ihn aufziehen wollten.
    »Bis dann, Bone Crusher«, antwortete er ruhig.
    Alex war nur eine Sekunde verblüfft, dass Jay den Spitznamen kannte, den seine Mannschaft ihm nach dem Beinaheunfall beim letzten Spiel gegeben hatte. Dann lachte er und klopfte zum Abschied auf den Tisch.
    Jay blickte ihm nach. Es tat gut, zur Abwechslung mal nicht der Einzige zu sein, der durch seine Größe auffiel. Er faltete die Liste zusammen und schob sie in die hintere Tasche seiner Jeans. Irgendwo neben ihm plärrte Musik los, ein Klingelton, der an seinen Nerven zerrte. Immer noch war es ein Gefühl wie Watte im Kopf. Genervt blickte er nach rechts und sah, wie einer der Freshmen – ein Neuntklässler – sein Handy hervorzog. Beim Anblick des leuchtenden Displays fiel Jay die SMS wieder ein. Hastig holte er sein Handy hervor. Doch sofort bereute er, das Ding nicht ausgeschaltet zu haben.
    Ruf mich verdammt noch mal an!!! C.
    Das Unbehagen flammte so schnell auf, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Wow, der Knopf aufs schlechte Gewissen funktionierte sogar über sechs Stunden Zeitunterschied und rund sechstausend Kilometer Entfernung. Er warf einen Blick auf die Uhr über der Tür. Kurz nach zehn. In Berlin war es jetzt also vier Uhr morgens. Allein die Vorstellung, dass Charlie jetzt wach war, machte ihn fertig. Er konnte sie vor sich sehen – bestimmt saß sie gerade in ihrem roten Bademantel auf dem Sofa, mit verheulten Augen und dem harten, wütenden Zug um den Mund, der sie so unglücklich aussehen ließ. Tja, wie weit musste man wohl fortgehen, um diesem Bild zu entfliehen?
    »Schlechte Nachrichten, Jay?«
    Jay steckte reflexartig sein Handy weg. Vor ihm stand seine Arbeitsgruppe aus dem Fach Geschichte. Drei Mädchen aus seiner Jahrgangsstufe.
    »Alles okay«, erwiderte er. »Müssen wir schon los?«
    Die Wortführerin, Jenna, ließ sich auf einen Stuhl neben ihm fallen. Wie immer trug sie Schwarz und hatte
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