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Zweilicht

Zweilicht

Titel: Zweilicht
Autoren: Blazon Nina
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sie tatsächlich in Sicherheit! Linda drückte das Mädchen mit einem Arm an sich und hangelte sich geschickt zurück in Richtung Ufer. Einen bizarren Augenblick hatte Jay die Vision, eine Szene aus King Kong zu sehen – ein riesiger Affe, der eine bewusstlose blonde Frau davonschleppte. In den Armen der Gorillafrau wirkte Ivy klein und zerbrechlich. Jay schnitt es ins Herz, sie so zu sehen – gleichzeitig hätte er vor Freude am liebsten geschrien, aber nur ein heiserer Laut kam aus seiner Kehle. Jeder Atemzug stach, und als Jay die Brauen zusammenzog, knisterte papierdünnes Eis.
    »Jay?«, erklang eine bebende Stimme neben ihm. Er drehte sich zu dem Mondmädchen um. Die Brücke hob sich unter ihnen so jäh, dass sie beide gegen die Steine gepresst wurden. Jay schnappte nach Luft. The End . Kein alternatives Ende vor Testpublikum . Der Held hat verloren und das Böse siegt .
    Er hatte nicht gewusst, dass es eine Kälte gab, die brannte wie blaue Lava. Die Wand vor ihnen wuchs in den Himmel, nur dass es keine Wand mehr war, sondern ein unförmiger Berg, in dem sich Sternenlicht brach wie in einem Prisma. Dann erreichte sie das Eis.
    Jay versuchte den Kopf wegzudrehen, aber seine Wange drückte auf jeder Seite gegen eisige Glätte. Und als er versuchte, einen Arm schützend vor das Gesicht zu reißen, merkte er voller Entsetzen, dass er längst gefangen war.
    Dann kam das Grauen des Verschlungenwerdens, Eis auf allen Seiten, die Panik des Erstickens. Er spürte seine Beine nicht mehr. Vermutlich umklammerte er immer noch die Hand des Mondmädchens, aber sicher wusste er es nicht. Ein jähes Gefühl zu fallen wie in einer Achterbahn – mit dem Schrecken, den Jay bloß aus Albträumen kannte. Der Moment, in dem man sah, dass die Achterbahn entgleiste, während man darin saß und fast im freien Fall dem Boden entgegensauste. Leider gab es hier kein Erwachen, kein erschrockenes Hochfahren im Bett und kein erleichtertes Aufatmen. Er konnte nicht einmal die Augen schließen, während er durch Kaskaden von kaltem Licht einem pulsierenden Blau entgegenstürzte. Nur ganz am Rande, durch Schichten von transparenten Wänden hindurch, erhaschte Jay eine Ahnung davon, was Wendigo war. Die Brückenpfeiler seine Schultern, die Fahrbahn die Linie der Schlüsselbeine, Arme aus Stahltrassen und Rippenbögen aus verbogenen Längsträgern. Schemenhaft erinnerte er sich daran, dass sein Vater ihm von einem Dämon erzählt hatte. Ein Skelett mit einem Herzen aus Eis.
    *
    Er erinnerte sich an keinen Aufprall. Vielleicht war er bewusstlos gewesen, jetzt rieb seine Wange schmerzhaft über Eis. Die Wucht trug ihn ein Stück glatte Wand hinauf und ließ ihn wieder zurückschlittern. Stöhnend blieb er liegen. Ist es vorbei? Er hatte immer gedacht, im Todesmoment würde sein Leben an ihm vorüberziehen, aber stattdessen liefen vor ihm Hunderte von Filmszenen vor ihm ab. Nicht die schönen, nein, all die tragischen, traurigen Momente. Eine Textzeile aus Blade Runner hallte besonders laut in seinem Kopf wider. » All those moments will be lost in time, like tears in rain. Time to die.«
    Aber er starb nicht, und er schien zu leben, denn immer noch hämmerte sein Herz gegen seine Rippen. Und neben sich hörte er einen zweiten, panischen Atem. Eis rieselte über seine Wangen, als er die Augen öffnete. Das Blau blendete, brannte sich pulsierend in seine Netzhaut. Erst nach und nach erkannte er, dass er und das Mondmädchen in einem Raum gefangen waren. Eine Eiskammer, rund und viel zu niedrig, um sich auch nur im Sitzen aufzurichten. Jays Schultern drückten gegen die gebogenen Wände. Das Mondmädchen schrie auf – ihre Stimme klang dumpf und so, als wäre sie weit entfernt. Er wollte sie beruhigen, aber sie warf sich gegen die Wände, trommelte mit den Fäusten dagegen, trat zu in der verzweifelten Anstrengung, sich zu befreien. Sie erwischte ihn mit einem Tritt gegen seinen Oberschenkel, aber er spürte ihn kaum und hörte nur das Brechen seiner mit Eisplatten gepanzerten Jeans. Die Panik drohte auf ihn überzuspringen wie ein Funke, er ballte schon die Hände zu Fäusten, um ebenfalls auf das Eis einzuprügeln – als die Wand sich bewegte. Das Mondmädchen wurde näher an ihn gedrückt, er selbst rutschte weiter, während sich Eis gegen seine Schultern schob und ihn nach vorne drückte. Die Kammer wird kleiner! Ohne nachzudenken, packte er das Mondmädchen an den Handgelenken und zog sie an sich.
    »Hör auf!«, beschwor er sie. »Je
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