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Zum Frühstück kühle Zärtlichkeit

Zum Frühstück kühle Zärtlichkeit

Titel: Zum Frühstück kühle Zärtlichkeit
Autoren: Heinz G. Konsalik
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gab, hatte Viktor beschlossen, eine Begegnung mit Dr. Normann herbeizuführen. Ich muß ihn vor mir sehen, dachte er. Dann lüftet sich vielleicht der Schleier, dann reißt die Nebelwand auf – und es wird hell in meinem Kopf und klar.
    »Machen Sie sich über Ihre Erinnerungslücken keine Sorgen, Herr Riffart«, hatte ihm der Professor gesagt. »Das kommt bei Schädelverletzungen häufig vor. Mit einem Schlag kann so etwas wieder behoben sein.«
    Mit einem Schlag.
    Es klopfte an der Tür.
    »Herein«, sagte Viktor laut und deutlich. Plötzlich spürte er, wie ihm der Schweiß auf der Stirn stand. Er durfte den Kopf nicht bewegen. Starr blickte er zur Tür.
    Ein Mann kam auf ihn zu. Groß. Wurde immer größer. Sein Gesicht nahm Konturen an. Die Augen, die Augen …
    Tonlos flüsterte Viktor Riffart den Namen: »Doktor Normann!«
    Und in diesem Augenblick hatte er das verlorene Leben mit einem Schlag wieder. Seine Erinnerung kehrte wie durch ein Wunder zurück. Er war zum zweitenmal aufgewacht, und dieses zweite Erwachen war schlimmer für ihn als das erste. Die Vergangenheit, die plötzlich in einer einzigen Sekunde gleich einem unendlich schnell laufenden Film abrollte, war ein Alptraum.
    »Ich hoffe, es geht Ihnen gut«, sagte Dr. Normann, zog sich einen Stuhl heran, setzte sich zu Viktor an das Bett.
    Viktor Riffart mußte seiner Schädelverletzung wegen noch immer still liegen. Es fiel ihm schwer zu sprechen. Nur langsam lösten sich die Worte von seinen Lippen. »Vierzehn Tage lang hat mich Laura täglich besucht, hat mir immer Blumen gebracht – warum hat sie mir nicht gesagt, daß wir in Scheidung leben?«
    Normann sah Viktor Riffart fest in die Augen; er wich dem Blick nicht aus. »Herr Riffart«, sagte er ruhig und gefaßt, »Sie haben soeben selber erlebt, wie verschieden man die Dinge, die Menschen, die Geschehnisse betrachten kann – je nachdem, wieviel man von eben diesen Dingen, Menschen und Geschehnissen weiß und wie gut man sie versteht. Und ich bin der Meinung, daß Sie Ihre Frau auch jetzt noch falsch sehen, weil Sie nicht wissen, was wirklich passiert ist. Und weil Sie sich auch nie die Mühe gegeben haben, Ihre Frau zu verstehen.«
    Viktor wandte den Kopf ab. »Was gibt es da noch zu verstehen!«
    »Sehr viel!« konterte der Arzt. »Sehr viel gibt es da noch zu verstehen. Ich möchte Ihnen dazu eine kleine Geschichte erzählen, die in diesem Zusammenhang nicht ganz unwichtig ist. Es ist meine Geschichte.« Er stand auf, ging zum Fenster, sah kurz hinaus, drehte sich um. »Ich war, wie Sie wissen, in Amerika. Ich hatte dort eine gutgehende Praxis, eine hübsche Wohnung, und ich war sehr verliebt in ein Mädchen. Das Mädchen und ich – wir waren, wie man so sagt, wahnsinnig glücklich. Kurz vor unserer Hochzeit verunglückte meine Braut tödlich.« Er machte eine Pause. Dann sprach er weiter, wie zu sich selbst. »Menschen fliehen gern vor ihren Erinnerungen. Ich tat es auch. Ich hielt es nicht mehr aus drüben und floh zurück nach Deutschland. Viel geholfen hat die Flucht nicht. Zwar lernte ich andere Frauen kennen, doch ich fand keine Erlösung. Irgendwie suchte ich immer die tote Geliebte, ihr Gesicht, ihre Augen.«
    Viktors Stimme klang bitter: »Die Fortsetzung der Geschichte ist leicht zu erraten.«
    »Wenn es um Menschen und ihr Leben geht, sollte man nichts erraten«, entgegnete Normann. »Als ich in dieser Situation der Einsamkeit Laura traf, Ihre Frau, war das ein Zufall. Und sicher ist es auch ein Zufall, daß sie meiner toten Braut ähnlich sieht, wie sich nur selten Menschen ähnlich sehen können. Damals hielt ich es für Schicksal; wenn man unglücklich ist, glaubt man gern an das Schicksal. Ich glaubte es um so mehr, als Ihre Frau ebenfalls unglücklich und einsam war.«
    »Laura?« unterbrach Viktor. »Sagten Sie unglücklich und einsam? Wie kommen Sie auf diese absurde Idee?«
    »Unglücklich und einsam, Sie haben ganz richtig gehört! Auch das ist ein Stück Ihrer Vergangenheit, Herr Riffart, daß Sie Ihre Frau eines Nachts verlassen haben, weil Sie als Mann von ihr enttäuscht waren. Weil Sie nicht erkannten, daß Laura krank war. In einem Augenblick, in dem Ihre Frau Verständnis und Liebe brauchte, verließen Sie die Wohnung mit den rücksichtslosen und grausamen Worten: ›Ich gehe zu einer anderen Frau, denn du bist keine!‹ – Erinnern Sie sich, Herr Riffart? Oder wollen Sie sich nicht erinnern?«
    Viktor schwieg. Ja, so war es, dachte er. Dr. Normann hat recht.
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