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Zum ersten Mal verliebt

Titel: Zum ersten Mal verliebt
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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Ein bisschen mehr Taktgefühl hätte man schon von Susan erwarten können.
    »Ja«, sagte Rilla knapp.
    Susan legte mit pflichtbewusster Miene ihre Pakete auf den Tisch. Sie war eigentlich todmüde, aber schließlich brauchte Rilla Unterstützung. Kenneth Ford war ja gekommen, um die Familie zu besuchen, nur leider waren alle fort, und »das arme Kind« hatte ihn die ganze Zeit allein unterhalten müssen.
    Aber sie, Susan, war ihr jetzt zu Hilfe gekommen. Susan wusste, was sich gehörte, da konnte sie noch so müde sein. »Du lieber Himmel, bist du aber gewachsen!«, sagte sie, während sie Ken in seiner Uniform betrachtete. Von Ehrfurcht keine Spur. Susan hatte sich mittlerweile an den Anblick dieser Uniformen gewöhnt und mit vierundsechzig ist eine Leutnantsuniform schnell ein ganz normales Kleidungsstück. »Schon erstaunlich, wie schnell Kinder wachsen. Die kleine Rilla hier ist schon fast fünfzehn.«
    »Ich gehe auf die Siebzehn zu, Susan!«, empörte sich Rilla. Sie war nämlich schon sechzehn Jahre und einen ganzen Monat. Susan war doch wirklich manchmal unmöglich!
    »Mir kommt es vor, als wärt ihr gerade erst Babys gewesen«, sagte Susan, ohne auf Rilla zu hören. »Du warst wirklich das hübscheste Baby, das ich je gesehen habe, Ken. Dabei hat deine Mutter es ganz schön schwer mit dir gehabt, dir das Daumenlutschen abzugewöhnen. Erinnerst du dich noch, als ich dich mal versohlt habe?«
    »Nein«, sagte Ken.
    »Naja, wahrscheinlich warst du noch zu klein. Ungefähr vier Jahre alt. Du warst mit deiner Mutter hier und hast Nan so lange geärgert, bis sie anfing zu weinen. Ich habe alles Mögliche probiert, dich davon abzuhalten, aber es hat nichts genützt, und da blieb mir nichts anderes übrig, als dich zu verhauen. Ich hob dich also auf, legte dich übers Knie und verdrosch dich. Du hast geschrien wie am Spieß, aber seitdem hast du Nan in Ruhe gelassen.«
    Rilla biss die Zähne zusammen. War Susan denn überhaupt nicht bewusst, dass sie mit einem Offizier der kanadischen Armee sprach? Anscheinend nicht. Was würde Ken bloß denken?
    »Dann wirst du dich bestimmt auch nicht daran erinnern können, wie deine Mutter dich mal verdroschen hat«, fuhr Susan fort, die sich anscheinend vorgenommen hatte heute Abend in zarten Erinnerungen zu schwelgen. »Ich jedenfalls werde das nie vergessen. Einmal war sie mit dir hier - du warst ungefähr drei -, und du hast mit Walter draußen im Hof mit einem Kätzchen gespielt. Ich hatte neben der Dachrinne eine große Tonne stehen, in der ich Regenwasser zum Seifenmachen auffing. Walter und du, ihr habt angefangen euch um das Kätzchen zu streiten. Walter stand auf einem Stuhl auf der einen Seite der Tonne und hielt das Kätzchen hoch, und du standest auf der anderen Seite, auch auf einem Stuhl. Du hast dich über die Tonne gebeugt und das Kätzchen gepackt, um es zu dir herzuziehen. Du warst schon immer groß darin, ohne viele Umschweife deinen Willen durchzusetzen. Walter ließ nicht los, und das arme Kätzchen schrie, aber du hast Walter mitsamt dem Kätzchen immer weiter gezerrt, bis ihr beide das Gleichgewicht verloren habt und zusammen mit der Katze in die Tonne gefallen seid. Wenn ich nicht auf der Stelle da gewesen wäre, wärt ihr beide ertrunken. Ich kam angerannt und zog euch alle drei heraus, und deine Mutter, die das alles vom oberen Fenster aus mit angesehen hatte, kam herunter, hob dich auf, klatschnass wie du warst, und verabreichte dir eine ordentliche Tracht Prügel. Ach«, sagte Susan mit einem Seufzer, »waren das damals glückliche Tage in Ingleside!«
    »Hört sich ganz so an«, sagte Ken. Es klang merkwürdig steif.
    Wahrscheinlich reichte es ihm jetzt endgültig, dachte Rilla. In Wirklichkeit musste er sich nur zusammenreißen, um nicht laut loszuplatzen vor Lachen.
    »Unser Rillachen«, sagte Susan und schaute das unglückliche Mädchen liebevoll an, »die hat selten Dresche gekriegt. Sie hat sich meistens anständig benommen. Nur einmal hat ihr Vater sie verhauen. Da hat sie sich zwei Pillenflaschen aus seinem Sprechzimmer geholt, um Alice Clow herauszufordern. Sie wollte sehen, wer zuerst alle Pillen runterschlucken kann. Wenn ihr Vater nicht zufällig rechtzeitig dazugestoßen wäre, dann wären die beiden bis zum Abend tot gewesen. Es ging ihnen so schon ziemlich schlecht danach. Jedenfalls hat der Doktor Rilla verdroschen, und zwar so gründlich, dass sie nie wieder irgendwas aus seinem Sprechzimmer angefasst hat. Heutzutage redet man viel
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