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Zuendels Abgang

Zuendels Abgang

Titel: Zuendels Abgang
Autoren: Markus Werner
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Weg ist sie!

    Später, nachdem er die Geschichte (auch die seiner plötzlichen Heimkehr) erzählt hatte, fragte ich ihn, ob er das alles gemeint habe mit seinem Eröffnungssatz draußen im Gang. - Nein, sagte er, der bezog sich auf ein Schild im Tram - Tausende täglich sehen es, lesen es, lassen es sich bieten, und auch mir ist diese Bestialität bis heute noch nie aufgefallen —, also, da steht geschrieben: Rasch aussteigen, Türe schließt bei freiem Trittbrett automatisch! - Erwartungsvoll sah Zündel mich an. Und ich ihn. Schließlich sagte er: Na ja, ich dachte nur, es sei nicht unbedingt alltäglich, daß reale und sinnbildliche Menschenfeindlichkeit zusammenfallen.

    Irgendwann, fuhr er fort, wolle er eine Flugschrift verfassen, die mit letztmöglicher Schärfe abrechne mit den durchaus benennbaren Produzenten von Angst und Leid, eine Art Chronik zeitgenössischer Niedertracht, eine Handreichung auch für die Sprach- und Mutlosen, die nur noch verdattert umherschlurften und Schweißausbrüche bekämen, wenn ein Wolf sich erkundige, was ihnen denn fehle. - Ein Wolf? fragte ich. - Ja, sagte er und zog ein gefaltetes Blatt Papier aus der Tasche, dies da wäre ein möglicher Anfang meines Traktats, ich hab's heut abend geschrieben.

    Einmal fragte der hungrige Wolf das Schaf, was es eigentlich auszusetzen habe an dieser Welt. - Darf man offen sein? fragte zaghaft das Schaf. - Natürlich! sagte der Wolf. - Es ist mir, sagte das Schaf mit pochendem Herzen, es ist mir hienieden alles ein bißchen zu wölfisch. -Kritik in Ehren! antwortete zähnefletschend der Wolf. Aber wenn du über ein harmloses Bißchen schon jammerst, wie willst du dann einen richtigen Biß überstehen?

    Kommst du draus? fragte Zündel gespannt. - Ich glaube schon, sagte ich. - Findest du's blöd? fragte er. - Ich sagte: Warum fragst du nicht, ob ich es gut finde? - Er besann sich, trank, zündete sich eine Zigarette an und meinte: Wahrscheinlich, um dir die Antwort zu erleichtern, wahrscheinlich, um mich vor Unverblümtheiten zu bewahren, um dir den von mir erwarteten Satz ›Nein, es ist nicht blöd‹ zu entlocken. Verbindlich Positives würde ich nämlich nicht glauben, verbindlich Negatives ertrüge ich nicht. Übrigens, Viktor, eine Frage: Du weißt sicher ungefähr, wieviel mal im Monat du mit Vroni schläfst, weißt du auch, wie oft du ihr irgend etwas vorwirfst, wie oft du sie - sagen wir pro Jahr und durchschnittlich -tadelst, kritisierst, zurechtweist? - Was in aller Welt hat das mit deiner Fabel zu tun? fragte ich ihn. - Es hat damit indirekt etwas zu tun, aber zuerst mußt du antworten! - Ich hab mir das noch nie überlegt, sagte ich, man sollte tatsächlich mehr darauf achten, also wenn ich so über den Daumen peile: ich schätze zirka zweimal, inbegriffen die Kritik aus Sorge, wie zum Beispiel: Immer sitzt du im Durchzug! - Zweimal im Jahr? fragte Konrad laut. - Pro Woche natürlich, präzisierte ich. - Er bat um meinen Taschenrechner. Hör zu, sagte er nach einigen Minuten, ihr habt vor fünf Jahren geheiratet, genau wie wir, du hast Vroni während deiner Ehe also rund 570mal kritisiert! Und ich? Kaum zwanzig lumpige Vorwürfchen von meiner Seite konnte Magda zusammenkratzen - sie hat mir das nämlich auf einer Liste schriftlich hinterlassen, ich verschwieg dir das vorhin -, zwanzig Vorwürfe in fünf Jahren, das macht pro Jahr vier, das macht pro Woche 0,070 und pro Tag 0,010 Vorwürfe. Stell dir das vor! Ein Hundertstel Vorwurf pro Tag murkst eine Ehe schon ab, undsoweiter undsofort, es geht auf keine Kuhhaut, was ich da zusammenplappere, ich verschwinde jetzt. - Aber du schuldest mir noch eine Antwort, sagte ich, Stichwort Wolf und Schaf. - Zündel (ungefähr): Jedes Sturmtief im sogenannten Privat- oder Intimleben erhöht meine Empfänglichkeit für das Trübe schlechthin. Die Weltluft ist zwar objektiv unrein, aber nur als Privatversehrter wittere ich den Gestank. Und so kommt es, daß ich, statt über das Besondere, das heißt meine Ehekrise, zu meditieren, mich ablenken lasse durch die umfänglichere Schadhaftigkeit des Allgemeinen. Daher die Fabel. Und wie gesagt, eines Tages wird mit sämtlichen Wölfen gnadenlos abgerechnet, nur braucht es noch viele viele Jahre, bis meine Schafskrallen hinreichend gewetzt sind und hinreichend entsetzlich aus meiner dann wohl gewaltigen Pranke hervorblinken. - Zündel lachte herzlich und ich mit ihm, und wir stießen auf seine Pranke an. Dann sagte er: Nein, nicht ihretwegen ist die
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