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Zuendels Abgang

Zuendels Abgang

Titel: Zuendels Abgang
Autoren: Markus Werner
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leer.
    In den Gemeinschaftsräumen suchte man vergebens. Mitpatienten sagten aus, sie hätten ihn am Nachmittag stundenlang auf einer Bank im Park sitzen sehen, er habe - trotz der großen Hitze - eine wollene, blaurot gestreifte Zipfelmütze getragen. Der verantwortliche Assistenzarzt wurde vom Chef zuerst mündlich, zwei Tage später auch schriftlich gerügt. Ebenso der Portier. Man benachrichtigte Magda. Vom Krankenbett aus erließ sie das Verbot, Zündel polizeilich oder gar per Radio suchen zu lassen. Ob sie ihren Mann an einem bestimmten Ort vermute?
    Sie halte es für möglich, daß er sich in ein Wochenendhaus in der Nähe von Hinwil zurückgezogen habe. Es gehöre seinem Kollegen Oswald Scholl, der ihm, Konrad, schon vor Jahren einen Schlüssel dazu geschenkt habe. Ob man ihren Mann dort abholen dürfe? Man könne es versuchen, aber sie bitte inständig um Sanftheit, man solle ihn keinesfalls gewaltsam zur Rückkehr bewegen.

    Am frühen Mittwochmorgen zogen - in Scholls Begleitung - zwei stämmige Anstaltspfleger los, um Zündel einzufangen. Sie ließen ihr Auto auf einer Waldwiese stehen und legten die restlichen sechs- oder siebenhundert Meter zu Fuß zurück.
    Die Läden des Holzhäuschens waren tatsächlich geöffnet. Auch ein Fenster im Erdgeschoß stand offen. Er sang. Er sang: 
    Marmor, Stein und Eisen bricht,
    aber unsere Liebe nicht.
    Marmor, Stein und Eisen bricht,
    aber unsere Liebe nicht...
    Bevor Oswald es verhindern konnte, schlug einer der Pfleger mit der Faust an die Türe und schrie: Aufmachen, Polizei!
    Sie verdammter Idiot, sind Sie verrückt? zischte Scholl. Dann krachte ein Schuß.
    Der brutale Pfleger machte vor Schreck einen Luftsprung. Der andere warf sich zu Boden.
    Im Fenster stand Zündel. Sein Gesicht war verzerrt, in der stark zitternden Hand hielt er eine Pistole. Weg weg weg, ich habe Weisung, das Feuer zu eröffnen! sagte er mit knarrender Stimme.
    Konrad, sei doch vernünftig, wir wollen dein Bestes, stammelte Oswald, während sich die beiden Pfleger nach einer Deckung umsahen. Zündel sagte: Auf die Vernunft muß geschissen werden, weg, sofort weg jetzt! Die drei Besucher zauderten, da hob Zündel abermals die Pistole und gab einen zweiten Schuß ab. Die Kugel schlug durchs Geäst. Stücke eines dürren Föhrenzweigs rieselten auf die Köpfe der Eindringlinge. Die Pfleger stoben davon.
    Noch einmal schaute Oswald unsicher und ungläubig auf Konrad und sagte: Verzeih diese entsetzliche Störung, ich geh jetzt auch, mach's gut, paß auf dich auf!
    Schon recht, sagte Zündel und schloß das Fenster.

    (Die Herkunft der Pistole, einer 9-mm-Parabellum der Firma Smith & Wessen, ist bis heute so wenig geklärt wie die Herkunft der Zipfelmütze.)

    Magda blieb dabei: Keine Gewaltanwendung! - Der Chefarzt hatte Verständnis, aber einen schweren Stand gegenüber der Polizei. Diese war durch Mosimann, den groben Oberpfleger, eigenmächtig informiert worden, und es ist ein Glück, daß sie ihrerseits, ehe sie etwas unternahm, Kontakt mit dem Chefarzt der Klinik aufgenommen hatte. Man akzeptierte schließlich Magdas Vorschlag, mich als Freund und Vermittler zu Konrad zu schicken. Dich nimmt er an, sagte Magda am Telefon, dir tut er nichts, bitte kümmere dich um ihn, ich selbst bin noch zu schwach dazu.

    Da Oswald, den ich durch Konrad flüchtig kannte, an diesem Mittwochnachmittag nicht abkömmlich war, führte mich seine ebenfalls ortskundige Frau nach Hinwil und von dort in die Nähe des Waldhauses, dessen Standort sie mir genau erklärte. Sie wolle beim Auto warten.
    Herr Pfarrer, sagte sie, Konrad war mir nie ganz geheuer, sicher ein lieber Mensch, aber irgendwie igelig, irgendwie unzugänglich, seien Sie vorsichtig, mein Mann hält ihn momentan zumindest - für unberechenbar! Ja, Frau Scholl, antwortete ich, aber er wird mir nichts antun, wir kennen uns seit bald zwanzig Jahren, er spürt mit Bestimmtheit, wie gern ich ihn habe. Oswald sprach von Persönlichkeitsveränderung, entgegnete schüchtern Frau Scholl.
    Ich kann nicht recht daran glauben, sagte ich, wir werden ja sehen.

    Auch ich hörte ihn schon von weitem singen, und ich wunderte mich über seine starke, klare Stimme.
    Er sang: Lasset dem Höchsten ein Danklied erschallen für sein Erbarmen und ewige Treu... Nach »Treu« pausierte er kurz und begann von vorn. Ich stellte mich neben das Fenster. Nach einer Weile brach er den Singsang ab. Er sagte laut: Eines Tages wird der alte Schafseckel noch fromm!
    Ich trat vor
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