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Zuendels Abgang

Zuendels Abgang

Titel: Zuendels Abgang
Autoren: Markus Werner
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obwohl bis zum Läuten noch zwanzig Minuten fehlten, stand er auf und sagte: Soviel für heute. - Er nahm die Mappe und ging langsam hinaus.

    In der folgenden Pause saß er wieder wortlos im Lehrerzimmer.
    Er machte vier Knoten in sein Taschentuch, an jeder Ecke einen. Dann nahm er einen Korkzapfen aus der Hosentasche und roch daran. - Ihm gegenüber unterhielten sich zwei Deutschlehrer. - Ich habe, sagte der eine, ich habe mich in den Ferien wieder einmal intensiv mit Goethes Sesenheimer Lyrik befaßt, und ich muß sagen, es war eine echte Bereicherung. Auch meine Frau konnte Zugang dazu finden.
    Plötzlich sprach Zündel. Und zwar laut. So laut, daß alle ändern verstummten. Er sagte: Hoffentlich ist der wichtigste Zugang zu deiner Frau jetzt nicht mit Lyrik verstopft, das täte mir leid.
    Der Kollege schaute ihn vollkommen verständnislos an. Zündel aber - ungeachtet der allgemeinen Betretenheit - sprach weiter. Er fragte: Weißt du, was ein Tanga ist? - Du meist Tango? fragte der Kollege höflich zurück. Nein! rief Zündel, ich meine nicht Tango, ich meine Tanga! Jetzt griff Dr. Wapp, ein Geographielehrer, über zwei Tische hinweg in die Befragung ein und sagte: Tanga ist eine Hafenstadt im ostafrikanischen Tansania, Ausgangspunkt der sogenannten Tanga-Bahn, die zum Kilimandscharogebiet führt!
    Das Kollegium staunte. Zündel sagte anerkennend: Sehr brav, Herr Wapp, sehr kenntnisreich! Ich habe allerdings gefragt, was ein Tanga sei, und so würde man sich ja kaum ausdrücken, wenn man nach einer Stadt fragte, nicht wahr? Die Bestnote, Herr Wapp, kann ich Ihnen für Ihre Leistung also nicht geben. Nein nein, meine Herren, Tanga - maskulin übrigens, also der Tanga - Tanga ist etwas ganz anderes, nämlich die Bezeichnung für einen raffinierten, pofreien Mini-Damen-Slip, eine wahrhaft freche Sinfonie aus Satin und Tüll, auf Wunsch auch mit Spitzen-Einsatz lieferbar - das ist ein Tanga! Und wieder zum Deutschlehrer gewandt, sagte er: Kauf ihr das doch, kauf ihr das doch, wer weiß, vielleicht beflügelt es euer saftloses Sesenheimer Geschlechtsleben! Totenstille.
    Der angesprochene Kollege, bestürzt, aber beherrscht, fragte endlich: Konrad, was ist in dich gefahren? Ein weiter entfernt sitzender rief: Spinnst du? Oswald, ein Englischlehrer und guter Freund Zündels, sprang auf, faßte ihn um die Schultern und fragte: Koni, was ist los, komm, ist dir nicht gut? Ich bring dich nach Hause!
    Doch Zündel, offensichtlich nicht Herr seiner selbst, schüttelte Oswald ab und schrie: Tut nicht so scheinheilig, ihr Schlappschwänze, ihr ranzigen Humanisten, ihr violetten Arschgesichter, ihr armseligen, verlogenen, mickrigen, perversen Scheißpädagogen, ihr schmierigen Hausierer, ihr scheuklappigen Unwissensvermittler h rt ihr nicht, daß es läutet?
    Er griff nach seiner Mappe und rannte aus dem Zimmer. Von den Zurückgebliebenen aber zweifelte keiner daran, daß ihr sonst so zurückhaltender, ja verschlossener Kollege den Verstand verloren hatte. Doch niemand traute sich, ihm zu folgen und dafür zu sorgen, daß ihm eine weitere Unterrichtsstunde erspart blieb.

    Es war eine Maturaklasse, aus nur fünfzehn Schülern bestehend, mit der Zündel seine letzte Lektion abhielt, eine Klasse, die er gern hatte.
    Schöne Ferien gehabt? fragte er, wartete aber keine Antwort ab, sondern fuhr hastig fort: Es sitzt doch nicht etwa jemand in diesem Saal, der bestreitet, daß unsere sieben Bundesräte nicht etwa lahme Enten sind, wie man zuweilen hört, sondern abgefeimte Spitzbuben? Verwirrt blickten die Schüler auf Zündel. Sie wunderten sich weniger über seine Frage, die sie der Satzkonstruktion wegen nicht auf Anhieb verstehen konnten, als über den Ausdruck »Saal«, befand man sich doch im kleinsten Zimmer des Hauses. Na? fragte Zündel.
    Da hob einer den Arm und sagte: Würden Sie die Frage vielleicht wiederholen?
    Zündel überlegte lange und antwortete dann: Nein, das ist mir zu beschwerlich. Auch habe ich keine eigentliche Frage gestellt. Aber eines sage ich euch: Seid wachsam! Hütet euch vor der Verbrüderung mit der Realität! Sobald ihr, sei es aus Anlehnungsbedürfnis, sei es aus Laufbahngeilheit, den Pakt mit ihr geschlossen habt, seid ihr des Teufels. Und wißt ihr, warum? Das Reale war anfangs identisch mit dem Göttlichen. Aber die Geschichte der Welt ist die Geschichte einer Zerfleischung. Und heute hockt Satan auf dem hintersten und letzten Zipfel der Wirklichkeit. Und damit ist diese Wirklichkeit identisch
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