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Zuckerpüppchen - Was danach geschah

Zuckerpüppchen - Was danach geschah

Titel: Zuckerpüppchen - Was danach geschah
Autoren: Heidi Hassenmüller
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Blitz ohne Donner. Was erwartete sie? Nichts. Sie wußte, er würde nicht ein Wort des Bedauerns aussprechen. Er würde nicht, durch die Jahre geläutert, begreifen, was erihr angetan hatte. Es ging nicht um ihn. Es ging nur darum, was sie fühlte. Nur darum wollte sie ihn sehen. Und vielleicht mit ihm reden. “Wenn er anfängt, mich zu beschimpfen, gehen wir”, hatte sie mit ihrem Freund abgesprochen, der sie begleiten wollte. “Dann ist auch ein Gespräch unmöglich.” Einen Freund dabei zu haben, erschien ihr wichtig. Nicht aus Schwäche, aber um mit ihm über die Begegnung reden zu können, mit jemandem, der ihn auch gesehen hatte.

    Und eines Tages war sie in Hamburg; sie war zu einer Hochzeit eingeladen. Am Tag nach dem Fest fuhr sie zu ihm. Die Straße war dieselbe geblieben. Dieselben Bäume, blühender Rotdorn, Tausende von kleinen Blutstropfen. Daß man so etwas nie vergißt, dachte sie und suchte die Hand ihres Freundes. Dieselben Geschäfte, dieselben Namen. Stand die Zeit in dieser Straße still?
    Auch das Haus war dasselbe geblieben, ein breiter Eingang, ein geräumiges Treppenhaus. Andere Farbe war an den Wänden, hellblau waren sie jetzt, früher waren sie grün gewesen, hellgrün, mintgrün, mittelgrün, aber immer grün. Auf der ersten Etage blieben sie stehen. Das Blut klopfte in ihren Schläfen, ihr Brustkorb schien zu klein für das Hämmern ihres Herzens. Sie sahen in die Hinterhofgärten. In einem stand ein Riesengartenzwerg. Witzig, dachte sie und ging die letzten Stufen hoch. Die Türglocke war beinahe nicht zu hören. Schlurfende Fußstapfen näherten sich der Tür. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, die Kette blieb noch davor.
    “Hallo”, sagt Gaby zu dem alten Kopf. Die Kette wird losgelöst, die Tür geht auf.
    “Ja?” fragt er und schaut sie unsicher an, Erinnerung blitzt in seinen Augen.
    “Ich bin Gaby”, sagt sie und saugt sich fest an der gelben Haut mit den großen Leberflecken, den aufgequollenen Tränensäcken unter seinen wasserblauen Augen, den eigenartig gespitzten Lippen mit einer Zigarette im Mundwinkel. Sie muß auf ihn hinunterschauen. Er ist klein geworden...
    “Gaby”, sagt er, “welche Gaby?” Sie schweigt, schaut nur, schaut.
    “Die Gaby aus Holland? Die Gaby, die diesen ‘schönen’ Roman geschrieben hat?”
    “Ja”, sagt sie, “diese Gaby.”
    Aus der Küche kommt ein erschrockener Ausruf: “Nein, nein, um Himmels willen, nein!”
    Seine Frau, vermutet Gaby. Er ist schon Jahre wiederverheiratet, verheiratet mit einer Frau, jünger als sie selbst.
    “Und?” fragt er. “Ich begreife dies nicht. Wer ist das?” Er weist auf Gabys Freund. “Ist das dein Mann?” — “Nein, ein Freund. Ich wollte noch einmal mit dir reden”, sagt sie.
    “Geht das?” fragt er. “Glaubst du wirklich, daß das noch geht?”
    “Ich weiß es nicht”, sagt sie.
    Er ist neugierig, er begreift dies nicht. Er hat sie zwanzig Jahre nicht gesehen, er ist überrumpelt.
    “Gut”, sagt er und macht eine übertrieben höfliche Handbewegung, als bitte er einen hohen Gast hinein, “komm dann mal herein.”
    “Das geschieht nicht!” Seine Frau kommt dazwischen, schiebt ihn brüsk von der Tür weg und versperrt den Weg. Zu Gaby sagt sie:
    “Sie haben meinen Mann durch den Dreck gezogen, Lügen über ihn erzählt. Sie kommen hier nicht herein. Nie!”
    Panik ist in ihrer Stimme. Sie macht die Tür zu. Gaby bleibt einen Moment stehen. Horcht. Stille.
    “Das war es denn”, sagt sie zu ihrem Freund. “Laß uns gehen.” Er nimmt wieder ihre Hand.
    Später kann sie mit ihm darüber reden. Das Erstaunen, daß sie tatsächlich Pappi gegenübergestanden hatte. Und zu begreifen, daß es vorbei war. Die Vergewaltigungen, die Erniedrigungen, der Schmerz — vorbei. Sie war nicht mehr das hilflose Kind — und er war nicht mehr der Henker. Er war ein alter Mann.

    Das Böse hatte ihn gezeichnet. “Für mich sieht er aus wie ein typischer Kriegsverbrecher”, sagte ihr holländischer Freund. “Im Alter bekommt jeder das Gesicht, das er verdient.”
    Sie nickte, aber es berührte sie nicht. Sie fühlte keinen Haß mehr, nur Erstaunen: Es war dieser Mann gewesen, klein, häßlich, von Fleisch und Blut. Hunderte Male hatte sie ihm den Tod gewünscht, alle höllischen Qualen, die es gab. Und jetzt? Nichts mehr. Nur Mitleid mit dem Kind, das das alles erlebt hatte.
    Aber die Frau ist frei von Haß.
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