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Zu viele Flueche

Zu viele Flueche

Titel: Zu viele Flueche
Autoren: A. Lee Martinez
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Nicht weniger hatte er verdient. Vielleicht lag am Ende doch ein Sinn in der Grausamkeit gegen den Grausamen. Vielleicht würde Margle, blutbefleckt und gedemütigt, doch noch den Reiz der Barmherzigkeit lernen. Wahrscheinlich war es allerdings nicht. Aber in einer Welt ohne Gerechtigkeit war Rache das Einzige, worauf man hoffen konnte.
    Sie legte die Ohren an. Speichel tropfte von ihren Lippen. Die Schatten zupften schalkhaft an den Haaren und Kleidern des Zauberers. Sie flüsterten in seine Ohren, sannen laut über den süßen Schmerz nach, den er bald erleiden würde. Und Margle weinte. Er schluchzte und zitterte. Rotz tropfte ihm über die Lippe.
     
    Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, und er fuhr zusammen. Tränen rannen ihm übers Gesicht. Doch Nessy biss nicht. Sie wischte sich die Spucke von den Lippen und lächelte sanft. Dann verscheuchte sie die Schatten, indem sie sie wie summende Insekten wegfegte. Danach half sie ihm auf. Sie bemerkte die Verwirrung in seinem Blick. Er verstand nicht, warum sie ihn nicht in Stücke riss, und er würde es wohl auch nie verstehen. Sie staunte, wie jemand gleichzeitig so viel und so wenig wissen konnte.
    Die Stimme des Schlosses war dunkel und leise. »Er hat dein Mitleid nicht verdient.«
    Nessy antwortete: »Mitleid verdient man sich nicht. Man bekommt es geschenkt.«
    »Das kann ich schwer nachvollziehen. Ich habe zu viel Bosheit in mir.« Die Stimme veränderte sich. Sie blieb zwar schroff, doch nicht mehr so sehr. »Aber ich habe recht, was dich angeht, Nessy. Du kannst mir viel beibringen. Und Margle, dieses alberne, jämmerliche Ding, hat seine Lektionen aufgebraucht.«
    Der Zauberer protestierte nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, sich die Tränen abzuwischen.
    »Bevor ich dich ins Leben zurückschicke, Nessy, stelle ich dir diese Rätselfrage: Es gibt eine Tür, die nicht geöffnet werden darf, und ein Ding auf der falschen Seite der Tür. Wie bekommst du es wieder dorthin, wo es hingehört?«
    Nessy dachte nur kurz nach, bevor sie ihre Antwort fand. Als sie sie hörten, lachten die gute und die schlechte Hälfte des Schlosses gemeinsam. Das Buch schwebte vom Tisch in Nessys Hände.
    »Lies es, und mach dich auf den Weg. Aber sei vorsichtig. Ich habe nicht die Macht, einen zweiten Tod zu durchkreuzen.«
    Nessy warf einen Blick auf Margle, der seine Fassung wiedergewonnen hatte, wenn seine Arroganz auch offensichtlich nachgelassen hatte. »Und was ist mit ihm?«
    »Was mit ihm ist? Er verdient jede Qual, die er erleidet. Und noch mehr.« Das Schloss seufzte tief. »Aber ich werde ihm Gnade gewähren, selbst wenn ich nicht einsehe, warum ich das tun sollte. Er wird vor meinen Schatten sicher sein, geschützt in der Wärme meiner Barmherzigkeit. Und jetzt geh. Möge das Glück dir hold sein, meine Herrin.«
    Nessy öffnete das Buch. Eigenartige Buchstaben tanzten auf den Seiten. Sie funkelten in weichem Licht. Nessy verschwand. Das Buch fiel zu Boden und überließ Margle der Gnade des Schlosses. Er humpelte auf seinem blutigen Bein und klaubte das Buch auf. Doch seine Seiten waren leer.
    »Der Zauber ist fort«, sagte das Schloss, und seine finsteren Phantome heulten vor Vergnügen.
    Margle zuckte zusammen. Er war jetzt ein Geist, seine Wunde konnte für immer bluten, ohne ihn zu töten. Ihm stand zwar keine Ewigkeit in Höllenqualen bevor, dafür aber eine endlose, lästig brennende Verletzung. Und zum ersten Mal in seinem Leben und Tod kam ihm ein Gedanke. Der Gedanke, dass er sich das vielleicht - nur vielleicht - selbst zuzuschreiben hatte. Doch es war nur eine leise Ahnung, und er verwarf sie schnell wieder.
    »Hör auf zu winseln«, seufzte das Schloss. »Setz dich.«
    Ein Stuhl erschien an dem kleinen Tisch, und er benutzte ihn. Er war nicht im Geringsten bequem, entlastete aber seinen Knöchel.
    »Verbinde das, sei so gut«, sagte das Schloss. »Du blutest mir den ganzen Boden voll.«
    Eine Verbandsrolle lag auf dem Tisch, und Margle verband seine Wunden. Als er fertig war, lehnte er sich auf seinem unbequemen Stuhl zurück und fühlte sich ein klein wenig besser.
    Im höchsten Turm der Seele des Schlosses brannten die Fackeln ein kleines bisschen heller, und die Schatten wurden ein kleines bisschen ruhiger. Und irgendwo in seiner vielschichtigen, gigantischen Seele lächelte das Schloss, auch wenn es nicht so genau wusste, warum.
     
    Sir Thedeus wachte über Nessys Leichnam. Sie war ein so kleines Wesen, nicht besonders anzusehen, aber es
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