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Zu Schnell

Zu Schnell

Titel: Zu Schnell
Autoren: John Boyne
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irgendwo ein Polizist entgegenkam. Garantiert hatte Dad die Polizei angerufen und gemeldet, dass ich abgehauen war und man mich suchen musste. Dabei war es doch einzig und allein meine Entscheidung, ob ich zu Hause wohnen wollte oder nicht, aber meine Eltern sahen das vermutlich anders.
    Gegen vier Uhr nachmittags ging ich ins große Einkaufszentrum, in das Kino im obersten Stockwerk. Um die Zeit gab es immer eine Aufführung speziell für Kinder, und der Eintritt kostete genau drei Pfund. So viel hatte ich ja noch, also kaufte ich mir eine Karte. Ich wollte mich irgendwo hinsetzen, wo es warm und ruhig war, weil ich keine Lust mehr hatte, dauernd in irgendwelchen Läden herumzuhängen und den Polizisten auszuweichen.
    Abends ging ich nicht wieder zur Schule. Wenn man auf der Flucht ist, dann muss man jede Nacht woanders schlafen, damit einen keiner findet. Ich streifte nach dem Kino noch eine Weile durch die Gegend, bis die Stadt fast menschenleer war. Und dann begab ich mich zum Parkplatz hinter dem Einkaufszentrum. Dort setzte ich mich mit dem Rücken an die Mauer. Es war allerdings zu nah bei den großen Containern, in denen sämtliche Abfälle entsorgt wurden. Zuerst wollte ich woanders hingehen, weil es so stank, aber mit der Zeit bemerkte ich den ekligen Geruch gar nicht mehr, also blieb ich sitzen. Allerdings musste ich pausenlos an mein Bett zu Hause denken und wie gemütlich es war. Und Mam machte es jeden Tag, wenn ich in die Schule ging. Beim Gedanken daran wurde ich sehr traurig, aber ich drückte die Tränen weg, weil man nicht weint, wenn man von zu Hause abhaut und sich alleine durchschlägt.
    Ich dachte auch ständig ans Essen, weil ich wahnsinnigen Hunger hatte und mein Magen merkwürdige Geräusche von sich gab. Aber ich konnte nichts tun, weil ich ja kein Geld mehr besaß und weil die Geschäfte sowieso alle schon geschlossen hatten.
    So richtig schlief ich auch in der zweiten Nacht nicht. Ich nickte nur immer wieder ein. Dabei fiel mir jedes Mal der Kopf nach vorn, und ich wachte wieder auf. Außerdem fror ich dann ganz schrecklich. Das war unangenehm, deshalb wollte ich doch lieber wach bleiben. Aber das schaffte ich nicht, und der ganze Zirkus ging wieder von vorne los. Die Nacht erschien mir endlos, noch viel länger als die erste. Ich nahm mir vor, nicht dauernd auf die Uhr zu sehen. Denn immer, wenn ich dachte, es seien mindestens zwei oder drei Stunden vergangen, seit ich das letzte Mal geschaut hatte, stellte sich heraus, dass gerade mal zehn oder höchstens fünfzehn Minuten rum waren.
    Sobald es hell wurde, stand ich auf. Alle Knochen taten mir weh. Meine Arme und Beine waren total starr und steif, und mir wurde bewusst, dass ich seit zwei Tagen dieselben Sachen anhatte. Was sollte ich heute mit meiner Zeit anfangen? Am besten wär’s, ich würde nach London fahren und mir dort einen Job suchen, denn ich konnte ja nicht ewig hier herumlungern.
    Und dann erlebte ich eine Riesenüberraschung. Als ich an einem Fernsehgeschäft vorbeikam, blieb ich kurz stehen, um die ganzen Apparate im Schaufenster zu begutachten. Auf allen lief dasselbe Programm. Offenbar waren es die Nachrichten. Ich konnte ja nichts hören, sondern nur die Bilder sehen. Plötzlich erschien auf allen Bildschirmen das Foto eines Jungen, und ich fand, dass er mir ziemlich ähnlich sah. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff, dass es tatsächlich ich war, und auf einmal fühlte sich mein Magen ganz komisch an. Dann verschwand mein Foto wieder von den Bildschirmen, und stattdessen erschien ein Reporter, der vor unserem Haus stand und etwas berichtete. Ich sollte lieber weitergehen, dachte ich, bevor jemand merkte, dass hier vor dem Schaufenster ein Fernsehstar herumstand! Aber die Leute waren alle auf dem Weg zur Arbeit und beachteten mich gar nicht. Jedenfalls musterte mich kein Einziger neugierig, als ich die Straße hinunterging.
    Da wusste ich, dass ich wirklich ganz auf mich allein gestellt war.
    Ein paar Stunden später fing ich an, mir echt Sorgen zu machen, weil ich wirklich sehr hungrig war und weil meine Arme und Beine sich so wackelig anfühlten wie Wackelpuddding. Außerdem hatte ich zweieinhalb Tage kaum geschlafen, und mir war schon ganz schwindelig. Sollte ich doch lieber heimgehen? Aber wenn ich das tat, durfte ich garantiert nie wieder raus aus dem Haus, bis ich mindestens dreißig war. Also – heimgehen war keine gute Idee. Und ich hatte ja auch keine Ahnung, was Mam und Dad mit mir anstellen
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