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Zu Schnell

Zu Schnell

Titel: Zu Schnell
Autoren: John Boyne
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Hausschuhen und mit einer Tasse Tee begrüßt hatte.
    »Sie war nicht da, als ich nach Hause gekommen bin«, sagte ich.
    »Wann war das?«
    »Um halb fünf.«
    »Komisch.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Und sie hat nicht angerufen und gesagt, dass sie noch irgendwo hingeht?«
    »Nein.«
    »Sie hat auch keine Nachricht für dich geschrieben?«
    »Ich hab jedenfalls keine gesehen«, antwortete ich und fügte hinzu: »Aber ich habe auch nicht geschaut, ehrlich gesagt.«
    Wenn Mam nicht zur üblichen Zeit nach Hause kam, hinterließ sie meistens auf dem Block neben dem Telefon im Flur eine Nachricht. Ich hatte gar nicht dran gedacht, dort nachzusehen. Dad ging in den Flur, kam aber gleich wieder zurück.
    »Nein, nichts«, sagte er. »Bestimmt ist sie irgendwie aufgehalten worden. Hast du Hunger?«
    Ich überlegte kurz. »Sogar einen Riesenhunger.«

    Als meine Mutter um acht immer noch nicht da war, fing mein Vater an, sich echt Sorgen zu machen. Er rief ein paar von Mams Freundinnen an, aber die wussten auch nichts. Am liebsten hätte er noch viel mehr Leute angerufen, das merkte ich, aber neulich war schon mal was Ähnliches passiert, und da hatte er ziemlichen Ärger mit Mam bekommen, weil er hinter ihr hertelefonierte. Mam hatte in der Bibliothek jemanden getroffen, den sie kannte, und war noch etwas trinken gegangen und länger weggeblieben als geplant.
    »Kann ich nicht ein eigenes Leben haben?«, rief sie empört, als sie von Dads Telefonanrufen erfuhr. »Muss ich immer alles vorher mit dir absprechen?«
    »Nein«, sagte Dad als Antwort auf ihre erste Frage und grinste sie an. »Und – ja.«
    Auch da dachte er mal wieder, er hätte einen tollen Witz gemacht. Aber Mam redete ein paar Tage so gut wie kein Wort mit ihm, und Pete und ich mussten das Kochen übernehmen, weil Dad behauptete, er könne nicht einmal Wasser kochen, ohne dass es anbrennt.
    Um halb zehn war sie immer noch nicht da, und Dad sagte zu mir: »Ich glaube, du solltest jetzt lieber ins Bett gehen.«
    »Aber es sind doch Ferien!«, wehrte ich mich. »Ich muss morgen früh nicht in die Schule.«
    »Du brauchst trotzdem deinen Schlaf«, sagte Dad. »Also tu bitte, was ich dir sage, junger Mann.«
    Normalerweise hätte ich versucht, noch ein bisschen Zeit herauszuschlagen, aber ich konnte genau sehen, dass er total beunruhigt war. Und ich machte mir so allmählich auch Sorgen. Wahrscheinlich war es besser, wenn ich das in meinem Zimmer tat, allein für mich, als hier unten mit meinem Vater. Deshalb ging ich nach oben und legte eine CD auf, aber nach ein paar Sekunden machte ich die Musik wieder aus, weil ich auf jeden Fall hören wollte, wenn meine Mutter den Schlüssel in die Haustür steckte.
    Ich ging ans Fenster. Gegenüber von mir war Mrs Kennedys Zimmer, und manchmal sah ich sie dort, wenn ich vor dem Schlafengehen die Vorhänge zuzog. Einmal war sie im BH, und ich wurde knallrot, obwohl ich allein im Zimmer war. Sie bemerkte mich nicht, aber als ich den Vorhang schloss, glaubte ich zu sehen, dass sie den Kopf drehte. Danach konnte ich ihr monatelang nicht in die Augen blicken.
    Ich zog jetzt meinen Schlafanzug an, dann schaute ich auf meine Füße hinunter und versuchte, jede Zehe einzeln zu bewegen, doch das schaffte ich leider nicht.
    Ich hatte David Copperfield von Charles Dickens angefangen und wollte weiterlesen, konnte mich allerdings nicht richtig konzentrieren und las immer wieder denselben Satz.
    Und dann hörte ich, wie sich ein Auto näherte, aber es klang nicht wie das von Mam. Sie hatte ein kleines Stadtauto, das sie Bertha nannte. Der Name brachte mich immer zum Lachen, aber einmal, als ich superschlechter Laune war, sagte ich zu Mam, eigentlich sei es eine blöde Idee, einem Auto einen Namen zu geben, und sie antwortete, ich solle nicht immer alles so ernst nehmen, das sei doch nur Spaß.
    Erst dachte ich, der Wagen würde vorbeifahren, aber dann hielt er an, der Motor wurde abgestellt. Türen knallten.
    Ich ging ans obere Treppengeländer, von wo ich den Flur unten überblicken konnte, ohne selbst entdeckt zu werden. Es klingelte. Dad kam aus dem Wohnzimmer und öffnete die Haustür. Da stand Mam. Sie schaute ihn nicht an, aber sie blickte auch nicht auf den Boden, sondern fixierte einen Punkt an der Wand, als wollte sie nie wieder irgendwo anders hinsehen.
    Rechts und links von ihr stand ein Polizist. Der eine nahm den Helm ab, und eine blonde Haarmähne wurde sichtbar, die bis zu den Schultern ging. Da begriff ich,
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