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Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Titel: Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
Autoren: Lenka Reinerova
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dir«, er legte mir eine knochige, von blauen Adern durchwirkte Hand auf den Arm, »diese Menschen haben etwas Ordentliches vollbracht und können über ihren Tod hinaus darauf zurückblicken. Das sollten wir nicht vergessen. – Studierst du, oder hast du schon einen Beruf?«
    »Ich arbeite in einer Redaktion.«
    Er hielt in seiner Bewegung inne und musterte mich kritisch.
    »Und da sagst du ganz ruhig, daß du nur wenig weißt? Eine Zeitung, liebes Kind, ist doch für viele gedacht. Also sieh zu, daß du nicht weniger weißt, sondern eher mehr als die Menschen, die dein Zeug lesen werden. – Und komm auch öfters hierher, damit du spürst, wohin du gehörst. Damit meine ich natürlich nicht unter die Toten. – Schalom.«
    Mit diesem Gruß, der Frieden heißt, ließ er mich stehenund stapfte gemächlich davon. Ich blieb wieder allein mit den Raben, lief noch ein bißchen zwischen den Grabsteinen mit den eingemeißelten, wie mir schien beschwörend erhobenen Händen umher, versuchte nun allein, die Zeichen von einst zu lesen, und verließ dann gleichfalls den Friedhof. Auf dem Heimweg in die Melantrichgasse kaufte ich mir ein Täfelchen Schokolade, um auf andere, fröhlichere Gedanken zu kommen.
    Wohin gehörst wohl du, Virginia? Von irgendwo mußt du doch kommen. Was ist mit dir geschehen, was hat dich auf diesen Treppenabsatz am Weg zur Royal Festival Hall gebracht?
    Du schweigst, blickst abweisend vor dich hin, verharrst in deiner bitteren Verschlossenheit. Da geht jemand an dir vorbei, eine Gestalt von Tausenden, das ficht dich kaum noch an. Die sollen ein paar Pennies neben dich fallen lassen. Mehr erwartest du nicht.
    Das Jahr 1939 war für mich ein Scheidepunkt; ein Kapitel meines Lebens fand ein jähes Ende. Von einem Tag auf den anderen ging alles drunter und drüber. Prag war mit einemmal nicht mehr die Hauptstadt der Tschechoslowakei, die gab es nicht mehr, sondern eines »Protektorats Böhmen und Mähren« und mußte den triumphalen Blick des »Führers aller Deutschen« vom Balkon seiner stolzen Burg auf dem Hradschin ertragen. Aber das war nur der Anfang. Ich wage gar nicht, daran zu denken, was meinem klugen Begleiter auf dem Alten Jüdischen Friedhof widerfahren sein mußte. Hätte ich seinen Namen gekannt, würde ich ihn wohl unter den Tausenden finden, die nunmehr an den Wänden der Pinkas-Synagoge am unteren Ende des Friedhofs, den er liebte und hütete, angeschrieben stehen. Die Namen der Menschen aus unserem geradezu höhnisch »Protektorat« betitelten Land, die in giftigen Flammen aufgegangen sind.
    Mir blieb dieses Schicksal wundersamerweise erspart.Mein Los waren Jahre des Exils. Auch das klingt beinahe tragisch; was ich erlebt und überlebt habe, war jedoch vor allem dramatisch. Gewiß, mitunter auch tragisch, doch immer aufregend, neu und also im Grunde genommen bereichernd. Denn ich war jung und wurde sozusagen über Nacht in die große Welt versetzt. Zuerst landete ich in Paris.
    Über das Exil in der französischen Hauptstadt hatte ich schon zu Hause allerhand gehört. Nach der Machtübernahme Hitlers im benachbarten Deutschland suchten zahlreiche Menschen in Prag Zuflucht. Es gab unter ihnen politisch Verfolgte und rassisch Verfolgte, Arbeiter und Studenten, Künstler und solche, die es erst werden sollten, manche waren schon im Dritten Reich verhaftet gewesen, andere konnten gerade noch der Festnahme entkommen. Für die bereits prominenten Schriftsteller, Künstler und Journalisten war meine Heimatstadt oft nur ein Umsteigplatz. Ihr endgültiges Ziel war Paris.
    Das dortige Leben, von dem sie erwartungsvoll und für meine Ohren in schillernden Farben sprachen, versuchte ich mir in meiner Melantrichmansarde oft ein wenig vorzustellen. Die Cafés auf den großen Boulevards, wo man anscheinend auf Schritt und Tritt über Berühmtheiten stolperte, die Galerie Lafayette, die gar keine Galerie war, sondern angeblich ein riesiges Kaufhaus, den Eiffelturm, unvergleichlich höher als unser bescheidenes Eiffelchen auf dem Petřín, die vielen Museen und historischen Denkmäler, die eleganten Pariserinnen, das ganze tolle Geschehen in der französischen Metropole.
    Und da wurde ich mit einemmal, ohne darauf vorbereitet zu sein, in diese sagenhafte Lichterstadt katapultiert. Jetzt war ich selbst Emigrantin.
    Meine erste Nacht in Paris. Ich verbrachte sie in einem winzigen Hotelzimmer – hier wohnte man auch dauerhaft in Hotels – und keineswegs allein, obwohl niemand mit mir Tisch und Bett
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