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Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Titel: Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
Autoren: Lenka Reinerova
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Menschen in meinem nächsten Umkreis nicht stimmte, fühlte ich. Es gab Dinge, Geschehnisse und Menschen in meiner Umgebung, die mir rätselhaft und somit verlockend erschienen und die ich kennen und verstehen wollte.
    »Du bist keine Proletarierin?« fragte ich einmal meine Mutter.
    »Um Gottes willen«, beunruhigte sie sich, »natürlich nicht. Warum fragst du danach?«
    »So«, sagte ich kurz, denn manchmal kam ich auch mit meiner an sich verständnisvollen und klugen Mutter nicht zu Rande. Auch konnte ich nicht verstehen, warum unüberhörbar Angst in ihrer Stimme mitschwang.
    »Macht nichts«, fügte ich deshalb noch beschwichtigend hinzu, »in unserer Klasse sind auch keine.«
    Da lachte meine Mutti, und mir fiel ein Stein vom Herzen, weil ihre Angst wieder weg war.
    Mancher vorerst unverständlichen Erscheinung konnte ich, als ich heranwuchs, auf den Grund kommen, anderen nicht. Geblieben ist mir die Unruhe.
    Auch heute noch glaube ich, daß die Nähe dieser »um ein besseres Dasein« kämpfenden Menschen mir, obwohl ich wohlbehütet in einem Kinderzimmer mit gesticktem Tischtuch und guten Eßmanieren aufwuchs, offenbar von Kindheit an ihren Stempel aufgedrückt hat. Allmählich vermeinte ich, mehr zu wissen, erklärte mich, als ich heranreifte, mit den Wunschvorstellungen benachteiligter Menschen spontan solidarisch. Erst viel später mußte ich mir entgeistert und zutiefst verletzt eingestehen, daß mir die Kehrseite der angestrebten gerechten Sache allzulange verheimlicht und verschlossen geblieben war. Ich war in meiner Jugend schneller und lieber begeistert als sachlich und vernünftig abwägend.
    Aber was ist dir widerfahren, Virginia? Hat dich Ungerechtigkeit oder Gleichgültigkeit aus der Bahn geworfen? Hast du dich mit einem bitteren Los resigniert abgefunden? Ist es über dich hereingebrochen, oder hast du etwa (dein so weißes Gesicht) selbst daran mitgewirkt? Sah ich doch manchmal einen glühenden Glimmstengel zwischen deinen dünnen zitternden Fingern. Gewiß, ich habe kein Recht, danach zu fragen, bin ja nur einer der hastig an dir vorübereilenden Passanten. Bist du jedoch imstande, dir selbst solche Fragen zu stellen? Kannst du das noch?
    Meine Kindheit in der elterlichen Wohnung hat noch eine weitere ganz andersartige, zwar bedauerliche, aber nicht unbedingt schicksalhafte Spur an mir hinterlassen. Meine Mutter war, wie schon gesagt, musikliebend. Und so war sie froh, daß wenigstens eine ihrer drei Töchter, nämlich ich, diese Veranlagung von ihr mitbekommen hatte. Sie beschloß, mir Klavierunterricht erteilen zu lassen. Zu diesemZweck wurde ein gleichfalls musikalisch begabter entfernter Verwandter engagiert. Dieser junge Mann war mir – ich war damals ungefähr zehn, zwölf Jahre alt – von allem Anfang an herzlich unsympathisch. Ich fand ihn pedantisch, langweilig und ständig mißgelaunt. Auch war er ein bißchen plump und hatte für meinen Geschmack zu große Hände. Das Klavier meiner Mutter, ein Flügel, stand in unserem sogenannten Speisezimmer, das nur bei festlichen Anlässen benützt und ansonsten im Winter nicht beheizt wurde. Deshalb mußte ich zum Üben und zu den freudlosen Unterrichtsstunden wenigstens zwei Wolljacken anziehen, was ich weder schön noch bequem fand, weil ich, so ausgestattet, nur beschwerlich die Arme bewegen konnte. Da es in den Nachmittagsstunden in der Stube mit den massiven dunklen Möbeln bald finster wurde, befand sich auf dem Klavier eine kleine Tischlampe, um die Tasten und vor allem das Notenblatt zu beleuchten. Auch diese Lampe war dunkel, aus brauner Bronze, und sie besaß zudem die Eigenheit, jedesmal, wenn ich sie anknipste, meiner kalten Hand einen leichten elektrischen Schlag zu versetzen. Ich kam mir in dem unterkühlten Zimmer neben dem unfreundlichen Verwandten, der mir auch noch unentwegt mit dem Fuß klopfend den (seinen) Takt angab, in meine Wolljacken gepreßt und den elektrischen Schlägen der Lampe ausgesetzt, wie verwunschen vor. Im angenehm erwärmten Kinderzimmer konnten meine beiden Schwestern inzwischen lesen, spielen oder gar nichts tun. Während ich in dieser frostigen Einöde ...
    Dem konnte meine Musikliebe nicht standhalten. Meine Mutter hielt meine Klagen für übertrieben, und so kam es, daß ich nie Klavierspielen erlernt habe.
    Dein Kollege, Virginia, der Obdachlose mit dem schönen dunklen Gesicht auf der Waterloo-Brücke, zupft manchmal auf einer Gitarre Cowboy-Melodien. Du bist immer reglos und still. In ihm spürt
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