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Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Titel: Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
Autoren: Lenka Reinerova
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Rettungsanker.
    Du hockst auf der Straße, Virginia. Wenn ich an dir vorbeigehe, schnürt mir etwas das Herz zu. Mitleid, Scham? Wer weiß. Dabei ist mir nicht einmal bekannt, ob das dein hartes Schicksal ist, ob es so sein muß oder ob du es gar so haben willst. Auch so etwas gibt es. Wie auch immer. Ich möchte dir von meinen verschiedenartigen vier Wänden erzählen. Denn so, wie ich mich geborgen fühle, wenn ich mich in Gedanken mit guten Menschen umgebe, unter denen ich mich einmal wirklich bewegt habe – neben all den neuen, die wunderbarerweise immer noch hinzukommen – , so will ich versuchen, für dich, obdachlose Virginia, aber auch für mich selbst manche der Haltestellen zu beleben, die es auf meinem Weg gegeben hat und die mich zweifellos ein wenig mitgeprägt haben.
    Mein erstes Zuhause war in Prag. Ich habe es nicht gewählt, ich wurde dort hineingeboren. Und zwar in das Vorstadtviertel Karlín (Karolinenthal), in eine sehr lange Vorstadtstraße an der Grenze zu den Industrievierteln Libeň und Vysočany. Wir waren eine bürgerliche Familie, die Menschen ringsum waren es auch. In Libeň und Vysočany dagegen lebten vorwiegend Arbeiter. Wenn von ihnen dieRede war, wurden sie oft als Proletarier bezeichnet. Darunter konnte ich mir nichts Richtiges vorstellen, fand das Wort jedoch fremdartig schön, versuchte es zu singen. Denn was eine Arie ist, das hatte mir meine musikliebende Mutter schon sehr bald erklärt; über Proletarier äußerte sie sich eher zurückhaltend. Die Erläuterung meines Vaters, der besser tschechisch sprach – aber »proletář« klang anders –, war dürftig und für mich keineswegs zufriedenstellend. Es handle sich um Männer und Frauen, die arbeiten, bemerkte er kurz. Ich staunte. Vater und Mutter arbeiteten doch auch, und sie bezeichnete niemand mit diesem sonderbaren Namen.
    »Gilt das auch für die Frauen in der Sodawasser- und Keksfabrik hier im Hof?« wollte ich wissen.
    »Ja, oder nein. Frag nicht soviel.«
    Also fragte ich nicht mehr und hielt mich lieber an das musikalisch klingende deutsche Wort. (Daß es auch Arier gab, entging damals noch völlig meiner Kenntnis.) Die Nähe der Proletarierviertel machte sich allerdings von Zeit zu Zeit durchaus unmusisch, laut und ungestüm bemerkbar. Auf ihrem Weg zu Arbeitslosendemonstrationen im Zentrum der Stadt – und die gab es im Laufe der zwanziger und frühen dreißiger Jahre immer häufiger – oder zu den großen Manifestationen am Feiertag der Arbeit, dem 1. Mai, zogen Schulter an Schulter lärmende, wie mir schien, geradezu unbändige Menschenmengen, aus den Proletariervierteln kommend, an unserem Haus vorbei. Ich durfte sie aus dem Fenster betrachten, mußte aber den Mund halten, und wenn ich verstohlen, wie ich glaubte, denen dort unten begeistert zuwinkte, wurde mir das Fenster sofort energisch vor der Nase zugeschlagen. Die aufgebrachte Straße war für mich jedoch ungemein anziehend, um mein Leben gern wäre ich mit den krakeelenden Menschen mitmarschiert. Und weil man mir das zügellose Geschehen dort unten so gut wie nicht erklärte, versuchte ich schon als Kind über diese aufregend interessanten, überdies scheinbar eine unbestimmte und unbekannte Gefahr und unheimliche Kraft darstellendenMänner und Frauen mehr zu erfahren. Die Schule kam für solche Erkundungen nicht in Frage, das hatte ich bald heraus. Da hielt ich mich schon lieber an die Frauen aus der Sodawasserfabrik im Hof unseres Wohnhauses. Die waren immer sehr freundlich, steckten mir, wenn ich ihnen auf ihrem Heimweg begegnete, mitunter ein paar Kekse zu, und so entschloß ich mich eines Tages zu der Frage: »Bist du auch eine Proletarierin?«
    Die so angesprochene Frau lachte. »Selbstverständlich«, sagte sie belustigt, »warum willst du das wissen?«
    »Weil ich dich am ersten Mai vom Fenster aus gesehen habe. Warum singt ihr auf der Straße (Prolet-Arien?), tragt bedruckte Fahnen (damit meinte ich die Spruchbänder), haltet euch an den Händen und zieht alle irgendwohin?«
    Sie lachte noch ein wenig, erklärte dann aber ganz ernst: »Weil wir um ein besseres Dasein kämpfen.«
    Das war nun wieder einmal typischer Erwachsenenjargon. Ich war zwar ein bißchen stolz, daß die Frau mit mir wie mit einem Erwachsenen sprach, hatte aber kaum eine Vorstellung davon, was hinter diesen Worten steckte.
    Und doch, so glaube ich heute, fing damals bei mir allerhand an. Ich begann nachzudenken. Denn daß da etwas mit dem Neben- und Miteinander der
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