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Zu gefährlicher Stunde

Zu gefährlicher Stunde

Titel: Zu gefährlicher Stunde
Autoren: Marcia Muller
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ich ihn kannte — also seit den Tagen, in denen er
das Empfangsbüro der Anwaltskooperative All Souls geleitet hatte war er ein
Kreuzworträtselfan, und ich fragte mich beiläufig, wie viele Wörter er im Laufe
der Jahre wohl in die Kästchen eingefügt haben mochte.
    »Wieso bist du noch hier?«, erkundigte
ich mich. »Es ist Freitagabend.«
    »Ich warte auf Neal. Wir wollen übers
Wochenende nach Monterey fahren.« Neal Osborn war Teds Lebensgefährte.
»Außerdem warte ich darauf, dass du mich um den Schlüssel zur Poststelle
bittest.«
    »Julias Schwester hat gesagt, die
Polizei habe bei ihnen zu Hause jede Menge Waren beschlagnahmt. Ich muss
wissen, ob hier noch mehr davon ist.«
    »Verstehe. Ich konnte selbst kaum
widerstehen, nachzusehen.« Er tippte mit dem Füller — Angeber, der er war,
füllte er seine Kreuzworträtsel stets mit Tinte aus — auf die Zeitung und legte
ihn beiseite. »Schauen wir doch mal nach.«
    Freitagabends war es still auf dem
Pier. Im Büro der Architekten gegenüber brannte noch Licht, sonst war alles
dunkel. Ted und ich gingen schweigend hinüber zur Poststelle, bei der es sich
im Grunde um einen überdachten Maschendrahtkäfig links vom bogenförmigen
Eingang des Piers handelte. Er schloss auf und schaltete die Deckenbeleuchtung
ein.
    Der Raum war in Behälter unterteilt,
darüber befanden sich Regale. Die meisten Behälter waren leer. Neben unserem
standen einige Kartons von Viking. »Kopierpapier«, erklärte Ted. Er beugte sich
über den Behälter und stieß einen Laut der Überraschung aus, als er einen Polsterumschlag
herausfischte.
    »Was ist los?«
    Er hielt den Umschlag hoch. Absender
war die Firma Coach Leatherworks, Empfängerin Ms Julia Rafael, c/o McCone Investigations.
    »Was sollen wir damit machen?«,
flüsterte Ted, obwohl uns niemand hören konnte.
    »Leg ihn wieder rein. Mehr können wir
nicht tun, er ist ein Beweismittel. Leg ihn rein — und lass ihn drin.«
     
    In den drei Stunden, bevor Glenn
Solomon am Pier eintraf, las ich die Akte Aguilar durch und erledigte den
Papierkram, konnte mich aber nicht richtig konzentrieren, da ich immer wieder
an Julia denken musste.
    Sie hatte sich letztes Jahr auf meine
Anzeige im Chronicle beworben, in der ich eine Ausbildungsstelle als
Ermittlerin anbot, für die keine Berufserfahrung notwendig war. Hintergrund
war, dass ich die Person nach meinen Vorstellungen formen konnte und dafür nur
ein bescheidenes Anfangsgehalt zahlen musste. Die Bewerbung, die sie mir
präsentierte, war das Abschreckendste, was mir je untergekommen war. Zwei Haff
strafen durch die California Youth Authority wegen Drogenmissbrauchs und zwei
Entlassungen durch frühere Arbeitgeber, einer davon ein naher Verwandter. Auf
der Plusseite konnte sie verbuchen, dass sie während der zweiten Haftstrafe
ihren Schulabschluss nachgeholt hatte und die solide Empfehlung des ehemaligen
Leiters eines sozialen Gemeindeprogramms besaß, das aus Bundesmitteln
finanziert wurde und für das sie vier Jahre gearbeitet hatte, bis die Regierung
den Geldhahn zudrehte.
    In Kalifornien werden gewöhnlich keine
Informationen über Jugendstrafen herausgegeben, um den Vorbestraften einen
neuen Anfang zu ermöglichen. Daher war es seltsam, dass Julia ihre
Vergangenheit so offen darlegte. Auf meine Frage erklärte sie, sie habe
gefürchtet, ihre Vorgeschichte könne irgendwie herauskommen, und es daher
vorgezogen, von Beginn an ehrlich zu mir zu sein. Im Verlauf des
Vorstellungsgesprächs legte sie eine brutale Offenheit an den Tag, und ich
vermutete schon eine Masche dahinter. Andererseits lernt man im Jugendgefängnis
eine gewisse Schläue, und diese Eigenschaft konnte ihr als Ermittlerin sehr
nützlich werden. Letztlich stellte ich sie vor allem deswegen ein, weil die
anderen Bewerber keine nennenswerten Qualifikationen besaßen. Sie lernte
schnell, verbesserte auch ihre zwischenmenschlichen Fähigkeiten und konnte zu
einem echten Pluspunkt für die Detektivagentur werden. Seit sie zu unserer
kleinen Familie gehörte, war sie offener geworden, vertraute auf die wachsende
Freundschaft mit den Kollegen, gewann an Selbstvertrauen. Und jetzt...
    Glenn klopfte an den Türrahmen und trat
ein. Er verzog keine Miene, als er sich in einem der Besuchersessel niederließ,
der unter seinem Gewicht knarzte.
    »Ist es schlimm?«
    »Ja.«
    Normalerweise war Glenn eine imposante
Erscheinung: groß und schwer gebaut, mit silbergrauem Haarschopf und selbst in
der Freizeit immer tadellos und
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