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Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner
Autoren: Bauerdick Rolf
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erstrebenswert sie ist, hat ihren Preis. Sie verändert die Integrierten.
    Vierzig Prozent der Bewohner in Hodász, einem 3000-Seelen-Dorf im Osten Ungarns, waren Zigeuner. Soweit ich mich entsinne vom Stamm der Lovara. Sie fühlten sich weder vom öffentlichen Leben ausgeschlossen, noch litten sie unter Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt. Die Folge einer intensiven Alphabetisierung schon in kommunistischer Zeit. Der damalige Bildungsschub ging auf einen katholischen Priester namens Miklos Soja zurück, den die Roma in Hodász wie einen Heiligen verehrten. Soja war bereit gewesen, von den Zigeunern zu lernen. Tagsüber ging er bei Viehhirten, Kolchosearbeitern und Straßenbauern in die Lehre, abends hockte er zwischen den Zechern und Kartenspielern, um ihre satten Flüche und Schimpfwörter zu erlernen. Anschließend übersetzte Miklos Soja die liturgischen Texte der Messfeier ins Romani. Und weil es ihm wichtiger war, dass die Leute lesen und schreiben konnten, als fromme Gebete in ihrer Muttersprache aufzusagen, hängte er in der Kirche neben die Ikonen Tafeln mit dem Alphabet auf.
    »Er war ein wirklicher Vater«, sagte Sandor Lakatos. »Er kümmerte sich um jeden und sorgte sich um den Zusammenhalt der Gemeinschaft. Vater Miklos machte keinen Unterschied zwischen Zigeunern und Ungarn.« Deshalb war es in Hodász nicht nötig, das 2007 in Ungarn auf Betreiben der Europa-Parlamentarierin Viktória Mohácsi beschlossene Gesetz gegen die Segregation einzuführen. In der örtlichen Grundschule gingen die Kinder der Ungarn und der Zigeuner längst in denselben Klassen zum Unterricht. In der Tradition von Pfarrer Soja sah sich auch der Rom Lakatos. In den Nachwendejahren hatte er sich als Tagelöhner in der Landwirtschaft durchgeschlagen, nun war er Kantor der Himmelfahrtsgemeinde und leitete das örtliche Altenheim, das erste ungarische Heim für betagte Roma, um die sich sonst niemand kümmerte. Die Einrichtung war ein Zeichen veränderter Zeiten, ein Indiz, dass das Fundament der ziganen Großfamilie Risse erhalten hatte. Die Pflicht, die Alten zu ehren und zu umsorgen, war nicht mehr allen heilig.
    Als wir durch den Ort spazierten, machte mich Lakatos darauf aufmerksam, dass viele Roma den bürgerlichen Lebensstil der Ungarn angenommen hatten. Die Häuser der Ethnien waren kaum mehr voneinander zu unterscheiden. Einige Lovara hatten es zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Sie arbeiteten im Baugewerbe, galten als solide Handwerker und erhielten Aufträge, weil sie preisgünstiger kalkulierten als die ungarischen Unternehmer. Trotzdem gab es auch in Hodász nicht genug Jobs. Nur trafen die ländlichen Strukturprobleme Ungarn und Roma gleichermaßen. Als wir über die Zukunftschancen der Jugendlichen sprachen, die es nach Budapest zog, auf der Suche nach Arbeit und auf der Flucht vor der dörflichen Langeweile, geriet Sandor Lakatos ins Grübeln. »Wir entwickeln uns weiter und passen uns der Zeit an. Nur verlieren wir dabei unsere Traditionen.« Der Verlust sei ein schleichender Vorgang, ein Prozess, der sich jedoch zusehends beschleunige und seinen Weg finde, von außen nach innen.
    »Es fängt mit der Kleidung an. Früher wussten wir an den Schleifen im Haar ein unverheiratetes Mädchen von einer Frau zu unterscheiden, heute sehen alle gleich aus. Die jungen Leute kleiden sich, wie man sagt, global. Wie diese amerikanischen Popcorn-Esser. Wie die Jugend im Fernsehen. Das neue Europa hat uns die Freiheit gebracht. Doch wo der Liberalismus sich ausbreitet, geht unsere reiche Gefühlswelt verloren. Unsere Tänze, unsere Lieder und Geschichten interessieren die Jungen nicht mehr. Früher haben wir auch anders gefeiert. Die Feste waren fröhlicher, ausschweifender auch. Sie waren Ausdruck von Gemeinschaft und Freude. Heute ist alles nüchterner geworden. Sicher auch frostiger.«
    Während die verelendeten Roma in Südosteuropa aus der Zeit fielen, suchten die assimilierten Zigeuner im dritten Jahrtausend eine neue Identität zwischen Klischee und Realität, zwischen pragmatischer Anpassung und der Sehnsucht nach einem Leben, das überschaubarer und geordneter schien. Zerrissen zwischen Tradition und Zeitgeist fand Sandor Lakatos keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Vielleicht war es wirklich jenes von Ronald Lee beschworene, gänzlich unzeitgemäße »heilige Feuer«, jener »Funke des Trotzes«, der die Roma lebendig hielt. Wo er glühte, war die Lebenslust mächtiger als der Alltagsfrust, das Gottvertrauen stärker als
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