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Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner
Autoren: Bauerdick Rolf
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Fatalismus und Katzenjammer. Wo der Funke erlosch, starben auch die so achtlos als Romantizismen denunzierten Eigenarten zigeunerischer Identität. Die Apathie verdrängte die Leidenschaft, das Kalkül die Aufrichtigkeit, die Schacherei den Großmut. Wenn die verschwenderische Freigebigkeit der Zigeuner verschwunden sein wird, verschwindet auch ein Gegenentwurf zur Dominanzkultur der Gadsche mit ihrem kleingeistigen Geiz-ist-geil-Gehabe.
    »Paradise Lost«! Unter diesem Leitmotiv stellten sich 2007 in Venedig sechzehn Roma-Künstler aus acht europäischen Ländern der Öffentlichkeit. Lange hatten die Zigeuner auf diesen Auftritt warten müssen. Allzu lange war ihre künstlerische Kreativität auf kunsthandwerkliches Geschick reduziert worden, dessen Produkte allenfalls taugten, auf osteuropäischen Folklore-Märkten verscherbelt zu werden. Nun wurde, erstmals seit der Gründung der Biennale 1895, die zeitgenössische Kunst der Roma einem großen internationalen Publikum gezeigt. Im Ambiente des Palazzo Pisani, außen von morbidem Charme, innen gediegen, präsentierte sich die Avantgarde der ziganen Kunstszene erfrischend jung, frech und rebellisch; intellektualisiert gewiss, aber auch unbefangen im spielerischen Umgang mit der eigenen Naivität und Kitschkultur. Kuratiert wurde die Ausstellung des Roma-Pavillons von der Budapester Kunsthistorikerin Timea Junghaus. Ihr Ansatz war vielversprechend. Sie nahm ihr Volk nicht aus dem Winkel gesellschaftlich verursachter Defizite wahr, Timea Junghaus sah ihre Leute mit dem Blick für ihre Chancen. Irgendwo hatte ich von ihr gelesen: »Wir definieren die Roma nicht als Problem, sondern als mögliches und tatsächliches Kapital.«
    Mit dem »verlorenen Paradies« war der Romni Junghaus ein fulminanter Paukenschlag gelungen. Im Bewusstsein blieben mir die Bilder des französisches Malers Gabi Jimenez, Jahrgang 1964. Eine seiner grellbunten Mixturen aus Pop-Art und Comic-Zeichnung zeigte ein Meer aus kantigen Köpfen vor stilisierten Wohnwagen und der Andeutung eines blauen Himmels. Die Gesichter waren Schemen, reduziert auf mächtige Nasen und Ohren sowie auffallend riesige Augen, die wie überdimensionierte Brillen aus den Köpfen wuchsen. So ausgeprägt die Sinnesorgane zum Riechen, Hören und Sehen waren, so haftete den Gesichtern ein offenkundiger Makel an. Ihnen fehlte der Mund. Nun forderte die Abwesenheit des Organs zum Sprechen, Essen und Schmecken Deutungen geradezu heraus. Wie auch immer die ausfallen, ich bin sicher, man versteht Jimenez falsch, wenn man seine mundlosen Zigeuner als Aufforderung begreift, den Stummen eine Stimme geben zu müssen. Die Roma können für sich selbst sprechen. Vielleicht aber laden die riesengroßen Brillen zu dem Bemühen ein, die Welt einmal mit den Augen der Zigeuner anzuschauen.
    Ich hatte des Öfteren mit Timea Junghaus telefoniert, ohne dass wir uns in Ungarn getroffen hatten. Die rege Kulturaktivistin war für das Roma-Programm des Open Society Institutes in Budapest tätig, das mich bei einigen Reisen zu den Zigeunern in Europa unterstützt und mit meinen frühen Fotos eine Internetgalerie eingerichtet hatte. Irgendwann bot mir Timea an, mich mit Budapester Künstlern bekannt zu machen, die in Venedig an der Visualisierung des verlorenen Paradieses beteiligt waren.
    Der markanteste von ihnen war zweifellos István Szentandrássy. Er war sechzig Jahre alt, hatte sein Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und qualmte eine Selbstgedrehte nach der anderen. Timea hatte seine Bilder recht trefflich als »Visionen mit wilden Pferden, exotischen Zigeunerprinzessinnen, Bettlern, Musikern und fatalen Romanzen« beschrieben, wobei sich Szentandrássy der grandiosen Technik der Meister der Renaissance bediente. Mit dem Besuch bei dem nachdenklichen Virtuosen, der wenig Wert auf öffentliche Selbstdarstellung legte, hatte mir Timea die Tür zu einer Schatzkammer geöffnet, deren opulente Reichtümer ich nicht recht zu würdigen wusste. Die ikonografische Macht und Präsenz der Porträts von Juden und Zigeunern, von Pharisäern und Madonnen, von Gequälten und Betrogenen, Verdammten, Reisenden und Suchenden, all die überbordende Symbolik und metaphorische Wucht berauschten, aber überforderten mich auch.
    Gottlob sprach Szentandrássy statt über Kunst lieber über das Leben.
    Was die verfemten Zigeuner von den verfemten Juden unterscheide, meinte er, seien die großen Gestalten der kollektiven Geschichte. Die Juden besaßen sie. Die Roma
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