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Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner
Autoren: Bauerdick Rolf
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hatte sein Thema gefunden, das seine Arbeiten fortan wie ein roter Faden durchzog: die Freiheit und mit ihr jene Kräfte und Mächte, die sie bedrohten oder beförderten.
    Er zeigte mir einige großformatige Kupferradierungen, abstrakte Variationen ein und desselben Motivs, das ihn seit Langem bewegte: die Vereinigung der dunklen und lichten Wesenskräfte der ziganen Identität im Tanz. In dem immer wiederkehrenden Motiv des Tanzes einer greisen Zigeunerin mit einem Engel näherten sich die erdenschwere Last der Geschichte und die Leichtigkeit himmlischer Geborgenheit aneinander an. Wobei nicht zu unterscheiden war, ob die beiden miteinander tanzten oder einander bekriegten.
    Eine Bildtafel mit dem Tanzmotiv war Teil eines unvollendeten Triptychons, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Roma visualisieren sollte. Die linke Seite stand für Krieg, Kampf und das ewige Ringen der Zigeuner um ihre Heimat. In der Mitte standen die Alte und der Engel. Die rechte Seite fehlte. Tibor Balogh erzählte, mit der Arbeit an dem Triptychon nicht recht voranzukommen. Die Bildtafel rechts wollte er der Zukunft seines Volkes widmen. »Aber ich habe noch kein Bild vor Augen. Mir fehlt eine Idee.«
    »Paradise lost.« Ich war mir nicht sicher, wie das Motto zu verstehen war. Unter der Prämisse, dass man nur verlieren kann, was man zuvor besessen hat, erwies es sich als bittere Ironie. Womöglich aber benannte es auch einen Schmerz, den Verlust einer Sehnsucht, eines Begehrens, den Tod einer Utopie; vielleicht auch das Ende falscher Illusionen und irrealer Träumereien. Nichts symbolisierte das verlorene Paradies für mich eindringlicher als ein Bild, das in Budapest in einem Haus in der Kende-Kanuth-Straße im XX . Distrikt hing. In dem Haus, ausgestattet mit Alarmanlage und Überwachungskamera, lebte Viktória Mohácsi mit ihrer Familie. Bis sie 2012 in Kanada um politisches Asyl bat.
    Das Bild hing über der Tür, die Esszimmer und Küche mit der Wohnstube verband. Es war eines dieser bunten und naiven Heile-Welt-Repros, die vor ewigen Zeiten in den Schlafzimmern frommer Katholiken hingen. In güldenem Rahmen zeigte es die Heilige Familie: Maria, Joseph und den Jesusknaben, Tauben fütternd inmitten friedlichen Idylls an plätschernder Quelle. Der kitschige Druck irritierte mich, fiel es mir doch schwer, ihn mit jener Viktória Mohácsi in Verbindung zu bringen, die ich zu kennen glaubte. Mit der Roma-Rechtlerin, der streitbaren Parlamentarierin und der energischen Politaktivistin. Und doch gehörte dieses Bild zu ihr, als wehe mit ihm etwas aus einer fernen Zeit herüber, etwas von großem Wert. Die Sehnsucht nach einem behüteten Leben, beschützt und ohne Angst.
    Als wir uns zum letzten Mal trafen, zahlte Viktória den Preis, sich zu oft und zu weit aus dem Fenster gelehnt zu haben. Sie hatte allen Hass auf sich gezogen und außer ihrer Familie fast alles verloren. Ihre politische Heimat, ihr parlamentarisches Mandat in Brüssel, ihre Arbeit, ihre öffentliche Reputation als ehemalige Journalistin und zuletzt den Boden unter ihren Füßen. Sie überlegte ihren Namen zu ändern, den Nachnamen ihres Ehemannes anzunehmen, unter einem Pseudonym zu schreiben. Und als allerletzte Möglichkeit, mit der Familie auszuwandern.
    Paradise lost. Selbstverständlich war Vitza klar, dass sie und ihr Volk nie ein Paradies kannten, das hätte verloren gehen können. Womöglich aber hatte es Alternativen gegeben, die ungenutzt blieben; Möglichkeiten, die verworfen wurden. »Wäre ich freundlicher und moderater gewesen«, sagte sie, »vielleicht wären die Verhältnisse nicht so zerrüttet. Ich wollte das nicht. Ich bin eigentlich kein Mensch, der andere verletzen will.«
    Vielleicht wäre ihr Leben anders verlaufen, wäre sie nicht in die Mühlen jenes politischen Konfrontationismus geraten, der Gräben vertiefte, wo Brücken hätten gebaut werden müssen.
    Ich mochte Viktória. Es war zum Verzweifeln, dass viele Ungarn nur das Messer in ihrer Hand sahen, aber nie ahnten, dass sie angreifen musste, um sich zu verteidigen. Viktória Mohácsi konnte Menschen vor den Kopf stoßen, sie konnte scharfzüngig und vielleicht auch verletzend sein. Aber nie aus einer Bösartigkeit heraus. Sie verletzte, weil sie selbst verletzt worden war. Was sie antrieb, war nicht der Hass gegen die Ungarn, sondern die Sehnsucht nach etwas Heilem, so wie in dem sentimentalen Bild der Heiligen Familie, wo es keine Alarmsirenen und keine Überwachungskameras
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