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Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner
Autoren: Bauerdick Rolf
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nicht. Moses, Isaac und Abraham waren Einheitsstifter, fähig und willens, ihr Volk in schweren Zeiten durch Wüsten zu führen. »Ihre Schriftkultur hat den Juden geholfen, die Erinnerung an ihre Führer zu bewahren. Die mündliche Erzähltradition der Roma kennt solche Vorbilder nicht. Deshalb sind wir zersplittert, verstreut über alle Welt. Wir sind ein zerstrittenes Volk.«
    Seit Jahren schaffte Szentandrássy an einem Bilderzyklus mit kirchengeschichtlichen Motiven für eine verfallene Kapelle. Im Kommunismus entweiht stand sie seit einem halben Jahrhundert außerhalb von Budapest auf dem Terrain eines Waisenheims. In der Anstalt lebten schwangere und straffällige Roma-Mädchen mit knallharten Biografien. Eine Halbwüchsige hatte die eigene Mutter erstochen, eine andere eine Boutiquenbesitzerin umgebracht. »Diese Mädchen brauchen Führung, Hilfe und geistlichen Halt«, sagte Szentandrássy. Deshalb stand er an der Leinwand und malte gegen die Haltlosigkeit an. Mit Bildern, die das Unglaubliche glaubhaft machten: Jesus, der über das Wasser läuft. Jesus bei seiner Taufe im Jordan, wie ihn der Heilige Geist überkommt. Franz von Assisi, der im Einklang mit der Natur den Tieren predigt. Und Madonnen, die ausschauten wie Zigeunerinnen; Frauen, die ihren Schmerz hinter ihrer Schönheit nicht zu verbergen wussten. Als wir uns von István Szentandrássy verabschiedeten, war ich einem Menschen, einem Rom, begegnet, der mit Pinsel und Farbe um die Geschichte seines Volkes und um seine eigene rang. Achtzehn Jahre seines Lebens hatte er selbst in einem Heim verbracht.
    Irgendwann später steckten mir ungarische Cigány, Szentandrássy male fromme Bilder für Kapellen, weil er reich werden wolle. So sprachen Menschen, die nie ein Bild des Meisters gesehen, die nie ein Wort mit ihm gewechselt hatten. So sprachen die Krebse im Eimer.
    Vielleicht war es Zufall, dass auch Tibor Balogh in einem Kinderheim aufgewachsen war. Ich hatte mich mit dem 32-Jährigen im Roma-Parlament verabredet, ein Name, der falsche Erwartungen weckte. Das »Parlament« lag in Jozsefvaros, dem berüchtigten VIII . Budapester Bezirk. Und weil sich nichts länger hält als ein ruiniertes Image, galt die Josefstadt mit ihrem hohen Anteil an Zigeunern vielen Ungarn noch immer als ein Viertel der Gescheiterten, als sumpfiges Terrain aus Drogen, Prostitution und Kriminalität. Zu Unrecht. Viel Energie, auch Geld, war in das Quartier geflossen, für Sanierungs- und Sozialmaßnahmen. Allerdings nicht für das Roma-Parlament. In der grauen Fassade klafften noch immer die Einschusslöcher der Gewehrsalven vom Ungarnaufstand 1956. Seitdem hatte der verschachtelte Bau keinen Mörtel und keine Wandfarbe mehr gesehen. Doch der äußere Zustand steten Verfalls verbarg seine inneren Werte. Das Parlament war das Kulturzentrum der ungarischen Zigeuner. In der hauseigenen Gemäldegalerie hingen auch Arbeiten von Tibor Balogh, der dem Begriff »Roma-Kunst« nichts abgewinnen mochte.
    »Die gibt es nicht. Es gibt Roma, die Künstler sind.«
    Balogh war ein Gratwanderer. Er hatte sich aus der Enge ethnischer Zuschreibungen befreit, ohne seine Herkunft und seine Wurzeln zu verleugnen. Die wiederum hatte er spät erst kennengelernt. Da man seiner Mutter das Sorgerecht entzogen hatte, geriet er mit einem Jahr bereits in die Obhut des Waisenheims in Tiszadob. Dort stammten zwei Drittel der einhundertfünfzig Kinder aus Zigeunerfamilien, die Erziehung jedoch oblag ungarischen Pädagogen. »Mein Glück«, sagte Balogh. Denn in dem Heim legte man Wert auf eine solide Schulbildung, die ihm die Pforte zur Budapester Universität öffnete. Er war der erste ungarische Rom, der an der Fakultät für Kunst und Graphik sein Diplom erwarb. Bis dahin fühlte er wie ein Gadscho, dachte wie ein Gadscho. Und studierte auch so.
    »Linien, Würfel, Kugeln, Perspektiven. Alles drehte sich um Techniken. Die Ausbildung war allein an der Entwicklung zeichnerischer Fertigkeiten ausgerichtet. Streng funktional. Klar, das Beherrschen des Handwerks ist unverzichtbar. Doch mir fehlte das Kreative, die Passion für Ideen.« Bis Tibor Balogh als Stipendiat eingeladen wurde zu einem Ferienlager für angehende Künstler, ausnahmslos begabte Roma. Die Zeit in dem »Romani-Art-Camp« geriet zu einer Offenbarung. »Erstmals in meinem Leben war ich unter meinen Leuten. Ich fühlte mich frei. Ohne Zwänge, Vorgaben und Reglementierungen. Ich war frei in der Gemeinschaft mit freien Menschen.«
    Tibor Balogh
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