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Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner
Autoren: Bauerdick Rolf
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wir nicht bezahlen.« Nein, nein, meinte der slowakische Bürgermeister Pitonák. »Die Hälfte des Geldes ist eine Kaution. Die gibt es zurück, wenn alles heil geblieben ist. Denn beim letzten Mal haben die Roma Fenster, Stühle und Tische demoliert und die Glühbirnen gestohlen.«
    Wer hin und wieder Rumänien bereist, dem springt links und rechts der Überlandstraßen ins Auge, dass eine beträchtliche Zahl von Roma in den letzten Jahren zu Reichtum und Ansehen gekommen ist. Nur habe ich mich immer gewundert, weshalb viele schmucke Häuser, prächtige Villen, ja selbst protzigste Paläste unfertig ausschauten. Wie Rohbauten. Irgendwann fragte ich den Kupferschmied Victor Calderar, dessen Familie in einem üppigen, aber nackten Ziegelsteinbau am Ortsrand von Brateiu lebt, nach dem Grund. »Ist dein Haus fertig, bist du tot.« Was für ein Ausspruch! Ein Satz zum Mitschreiben! Mir schien er ein Ausdruck von Weisheit und Weitsicht. Bis mir mein rumänischer Begleiter, der Priester Lucian Mosneag, den profanen Hintergrund der ziganen Klugheit erklärte. »Ist dein Haus fertig, verlangt der Staat hohe Steuern.«
    So sind sie nun mal. Hunderte Male habe ich diesen Satz gehört, und ebenso viele Male habe ich die Lebensweise der Roma gerechtfertigt: als Ausdruck des jahrhundertealten Erbes von Feindschaft und Ablehnung, Vernichtung und Hass; als Konsequenz von Versklavung und Leibeigenschaft; als Folge der Ohnmacht gegenüber Ausbeutern und Abschiebern und all den kühl kalkulierenden Populisten, die für ihre verkorkste Politik die Miserablen dieser Erde als Sündenböcke missbrauchen. Alles richtig, alles korrekt. Nur alles wenig hilfreich. Denn es gibt auch eine andere Wahrheit. Nach ungezählten Begegnungen in über zwanzig Jahren erinnere ich kaum einen Rom, der für die Wurzel seiner Misere ein Stück Verantwortung bei sich selber gesucht, geschweige denn gefunden hätte.
    Unstrittig ist, dass die Roma nach dem Untergang des Sozialismus von den Gesetzen des freien Marktes ins soziale Elend katapultiert wurden. Bulgarische Schmiede und Verzinner haben keine Chance gegen billige Blechtöpfe aus China. Die ersten Arbeiter, die bei der Privatisierung ungarischer Paprika-Kolchosen entlassen wurden, waren die Zigeuner. Verhängnisvoll jedoch ist, dass viele keine Alternative zur staatlichen Alimentierung sehen, in Apathie erstarren und ihren Opferstatus verfestigen. Dabei zieht die Entwurzelung ihrer Familien einen fatalen Kreislauf aus Verelendung und Ghettoisierung, aus Gewalt und Gegengewalt nach sich, ein Prozess, der komplizierter ist, als dass die Mehrheitsgesellschaft immer nur die Täter stellt und die Minderheit immer nur die Opfer.
    Verdrängt wird, dass die Zigeuner weit weniger von den Gadsche als von den Angehörigen des eigenen Volkes ausgebeutet werden. Sie selbst leiden am meisten unter Kindesmissbrauch, Frauenhandel und Zuhälterei, unter Kreditwucher, Erpressung und Bandendiebstahl. Die Kriminalität wird zusehends von verantwortungsbewussten Meinungsführern der Roma angeprangert, nicht jedoch von der moralischen Avantgarde der Gadsche. Sie missbraucht die Zigeuner als Objekt einer bloß imaginären Fürsorge, während sie die verschleißende Arbeit in den Armutsquartieren anderen überlässt. Erzieherinnen, Kindergärtnerinnen und Lehrer verzweifeln daran, dass Eltern ihre Kinder als Analphabeten aufwachsen lassen, zwölfjährige Töchter gegen Brautgeld verlobt werden, um mit fünfzehn zu heiraten und mit zwanzig vierfache Mutter zu sein. Westeuropäische Intellektuelle attestieren den Roma jederzeit, als Opfer der Gesellschaft um ein eigenverantwortliches Leben betrogen zu sein. Aber sie schweigen allesamt, wenn bulgarische Zigeuner Hunderte junger Frauen auf den Dortmunder Straßenstrich schicken und skrupellose Verbrecher in Mailand oder Marseille, ja selbst im frommen Lourdes nachts in Hinterhöfen verwahrlosten und apathischen Kindern das Bettelgeld abknöpfen.
    Ich erinnere mich an eine Begegnung mit einer Studienrätin, die nach eigenem Bekunden alles »über die Sintis und Romas« gelesen hatte. Entrüstet belehrte sie mich während einer Fotoausstellung im westfälischen Münster, dass Wilma Lakatos, die auf einem meiner Bilder ein Baby stillt, »nie und nimmer« eine Romni sein könne. Denn eine Roma-Mutter würde niemals vor einem Fotografen ihre Brust entblößen. Ich würde diese Lehrerin nicht erwähnen, wäre sie nicht repräsentativ für ein intellektuelles Klima, in dem sich
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