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Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner
Autoren: Bauerdick Rolf
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Hinrichtungsszene haftete etwas Surreales an. Zwei alte Menschen lagen in ihrem Blut, staatsmännisch bekleidet und doch beschämend nackt. Nichts war übriggeblieben vom »Titan der Titanen, der selbst der Sonne trotzte«. Der Conducator, der einst mit Phantasieschärpen auf der weltpolitischen Bühne umhergockelte, von Hofschranzen beklatscht, war zurückmutiert zu dem, was er in seinem Kern war, ein vom Machtinstinkt besessener Schustergeselle. Doch er hatte Spuren hinterlassen, eine erschreckende Entwurzelung und Verrohung und die Gewissheit, dass Rumäniens tiefe Wunden noch lange schmerzen würden.
    Meine pure Ahnungslosigkeit über den Zustand des Landes wurde mir bewusst, als ich in einer abgrundtief tristen Bergbaustadt namens Dr. Petru Groza, benannt nach einem moskautreuen Politiker und heute zurückbenannt in Ştei, einen leeren Lebensmittelladen betrat. Egal, wonach ich fragte, immer hieß es: »Nu avem.« Haben wir nicht! Weil ich durstig war, kaufte ich schließlich zwei unetikettierte Glasflaschen mit Mineralwasser, die zusammen nach heutigem Wert etwa vierzig Euro-Cent kosteten. Was für rumänische Verhältnisse damals relativ teuer war. Beim Öffnen realisierte ich, dass ich zwei Liter grauenvollen Industrie-Vodka erworben hatte.
    Natürlich trieb mich die journalistische Neugier auch nach Siebenbürgen in »die schwarze Stadt«. Nach Copşa Mică. Der Name kursierte als Synonym für den Irrsinn ungehemmten staatsmonopolistischen Misswirtschaftens. Nirgends sonst in Europa hatte der Mensch die Natur und sich selbst brutaler vergewaltigt als hier. In Copşa Mică offenbarte die Terra incognita Rumänien die schwärzeste Seite ihrer Seele. Eine so verdreckte, eine so trostlose Stadt im Schatten eines monströsen, Menschen verschlingenden Fabrikungeheuers hatte die Welt bis dato nicht gesehen.
    Copşa Mică, auf Deutsch Klein-Kopisch, liegt links des Flusses Târnava, rechts liegt der alte Sachsenweiler Klein-Probstdorf. Als ich 1990 erstmals die halsbrecherische Brücke überquerte, die beide Orte miteinander verband, zählte man in Siebenbürgen knapp 120 000 Deutsche. Heute sind es noch 13 000. Die Gründe, die in den frühen neunziger Jahren zu dem Massenexodus führten, leuchteten nirgends unmittelbarer ein als in der Region um Probstdorf. Zu Hunderten waren die Sachsen in die Bundesrepublik geflüchtet. Hals über Kopf hatten sie eine unwirtlich gewordene und perspektivlos erscheinende Heimat hinter sich gelassen, von der Hans Schörrwerth sagte, hier gehe jeden Tag die Welt unter. Schörrwerth war einer der letzten verbliebenen Sachsen. In seinem Kummer über den Niedergang seines Geburtsortes leisteten ihm nur ein paar Alte, Kranke und Verlorene noch traurige Gesellschaft. Und die Schwarzen, die Negru, wie die Rumänen die Zigeuner nannten. 1940 war Probstdorf noch ein reiner Sachsenweiler, nun stellten die Roma neunzig Prozent der Einwohner.
    Galt den internationalen Medien Copşa Mică schon als ein Vorhof zur Hölle, so lebten die Zigeuner dort inmitten eines apokalyptischen Alptraums. Sie hausten in einem Elend, das sogar meinen kommentarfreudigen rumänischen Dolmetscher Victor Sineac in die Fassungslosigkeit trieb. Niemals sonst auf unseren gemeinsamen Reisen kam ihm das Wort »unbelievable« so häufig über die Lippen wie in der »fucked-up black city«. Tiefer als in Copşa Mică konnte man nicht fallen, so glaubte ich. Was sich später als Irrtum erwies.
    Alles in Copşa Mică war schwarz. Das Wasser der Târnava, die Fassaden und Dächer der einst so schmucken Sachsenhäuser, die Wiesen und Felder, die Blätter an den Bäumen, das Gemüse in den Gärten, die Kühe und Schafe, die Hühner und Hunde, die Wäsche an den Leinen und die Kleider auf den Leibern. Schwarz waren auch die Menschen. Staub und Qualm verklebten die Poren ihrer Haut, krochen in die Lungen und raubten ihnen den Atem. Das amerikanische Magazin National Geographic druckte damals ein Satellitenfoto der Umgebung von Copşa Mică, um zu beweisen, dass sich das unsägliche Schwarz nicht einmal von der erhabenen Warte des Weltalls verflüchtigte. Tonnen von Ruß lasteten auf dem Land, herausgerotzt von den rauchenden Schloten einer berüchtigten Fabrik, die Lampenschwarz produzierte, das zum Färben von Autoreifen benutzt wurde. »Bis Mitte der achtziger Jahre lief das Werk einigermaßen«, erzählte Hans Schörrwerth. »Dann ging dem Ceauşescu das Geld aus. Die Filter der Anlage wurden nie mehr gereinigt.« Weit
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