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Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner
Autoren: Bauerdick Rolf
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prächtige Grabstätte auf. In ihr waren die Zwillinge Peter und Pavol Jano zur letzten Ruhe gebettet. Der üppige Blumenschmuck aus billigen Plastikrosen stammte von slowakischen Romungro-Zigeunern, den teuren Granitstein und die Grabplatte mit den eingravierten Namen hatte die Gemeinde von Velka Ida gestiftet, als wolle man den Brüdern im Tod jene Ehre erweisen, die ihnen zu Lebzeiten versagt geblieben war.
    Die Behausungen der Roma-Siedlung von Velka Ida waren von erschreckender Armseligkeit. Die winzigen Hütten, zusammengeschustert aus bröselnden Lehmziegeln, rostigen Wellblechen und Presspappe lagen direkt neben den ausgedehnten Industrieanlagen der VSZ , der Ostslowakischen Eisenhütte. Das Stahlwerk hatte sich aus sozialistischer Vergangenheit in die kapitalistische Gegenwart hinübergerettet, mit reichlichen Blessuren, so dass es Mitte der neunziger Jahre zu einem schweren Unfall kam. Eine Rohrleitung mit hochgiftigem Gichtgas zerbarst und setzte große Mengen Kohlenmonoxid frei, das neun Hüttenarbeiter das Leben kostete. Zudem erstickten zwei Männer aus dem angrenzenden Roma-Slum. Ein Rätsel blieb, wie die beide arbeitslosen Peter und Pavol mit dem Gas in Berührung kamen.
    »Die sind nachts in die Fabrik eingebrochen, um zu stehlen«, mutmaßten die slowakischen Nachbarn. »Werkzeuge, Kabel, Metall, irgendetwas Brauchbares.«
    »Nein«, widersprach der Woiwode Ondres Jano: »Die beiden wollten sich bei den Arbeitern in der Werkskantine etwas zu trinken besorgen. Wenn ihnen der Schnaps ausging und der Laden im Dorf bereits geschlossen hatte, sind sie nachts immer durch ein Loch in dem Zaun in die Fabrik geklettert.«
    Wie auch immer, ihre letzte Tour führte die beiden 34-jährigen durch die Gaswolke. Morgens lagen Peter und Pavol tot auf einem Acker. Beide hinterließen hochschwangere Frauen und viele Kinder. »Sehr viele Kinder«, sagte Ondres Jano.
    An einem verschneiten Nachmittag kurz vor Weihnachten fuhr ein Lastwagen der Gemeinde mit einer Ladung Sperrmüll in der Siedlung vor. Irgendwo war ein baufälliges Verwaltungsgebäude abgerissen worden, und man hatte beschlossen, Holztüren und Regale, Tischplatten und Büroschränke den Roma von Velka Ida zu überlassen, als Baumaterial für ihre Hütten oder als Ofenholz zum Heizen. Eine Weile stritten sich die Bewohner um die brauchbarsten Stücke, schleppten Türen und Schrankwände ohne erkennbares Ziel von A nach B und wieder retour, bis ihr Interesse an dem gebrauchten Mobiliar erlosch und das Sperrgut über die ganze Siedlung verstreut im Schnee umherlag.
    Im Frühling kehrte ich nach Velka Ida zurück. Ich hatte Fotos von der ersten Reise mitgebracht, hochwertige Schwarzweißabzüge, handgefertigt in der Dunkelkammer. Kaum hatte ich die Bilder ausgepackt, wurden sie mir aus den Händen gerissen und zerfetzt. Die Stimmung war miserabel. Sturztrunken torkelten die Männer umher, die Kinder schrien, die Frauen kreischten, alle gifteten einander an, während ein schmieriger Typ wie Pech an mir klebte, hartnäckig bemüht, mir Ficki-facki-Videos anzudrehen. Vielleicht hätte ich besser an einem anderen Tag nach Velka Ida fahren sollen, nicht an einem Montag, statistisch gesehen der ungünstigste Tag für den Besuch eines Gadscho. »Jeden zweiten Montag wird die Sozialhilfe ausgezahlt«, erklärte mir der Woiwode Jano mit aufrichtigem Bedauern. »Dann kaufen die Leute Branntwein, trinken sich besinnungslos und wissen nicht, was sie tun. Komm in ein paar Tagen wieder, wenn alle wieder nüchtern sind.«
    Der Absturz in die Bewusstlosigkeit war tragisch. Die verzweifelte Strategie, vor einem entwürdigten Leben in den Vollrausch zu fliehen, ließ die Menschen nur noch tiefer in die Entwürdigung taumeln. Dass die Flucht ins Delirium staatlicherseits nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert wurde, war nirgends in Europa so offenkundig wie in Rumänien. Ausgezehrt und ausgelaugt, versumpft in Lethargie lag das Land nach dem Ende der bizarren Ceauşescu-Diktatur danieder. Anders als bei den samtenen Revolutionen in der Deutschen Demokratischen Republik, in Ungarn oder der Tschechoslowakei stand bei der Geburt des neuen Rumänien der Tod an der Wiege. Die Freiheit brach herein, roh, gewalttätig, mit entfesselter Wut. Neunzig Patronen feuerten Milizionäre Weihnachten 1989 aus ihren Kalaschnikows auf das Ehepaar Ceauşescu ab, als könne man im Moment der epochalen Abrechnung die bösen Geister der Vergangenheit gleich miterledigen. Der
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