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Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner
Autoren: Bauerdick Rolf
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politisch korrekte Meinungen hartnäckig gegen jedes Erfahrungswissen behaupten wollen. Ende der neunziger Jahre suchte ich eine promovierte Soziologin an einer deutschen Universität auf, die sich mit ihren Publikationen über die Zigeuner eine hohe wissenschaftliche Reputation erworben hatte. Ich zeigte ihr einige Fotografien, darunter ein Porträt eines ungarischen Rom mit seinem Pferd. Dass Gáspár György sich als Schrottsammler mehr schlecht als recht durchs Leben schlug, interessierte die Forscherin nicht. Hingegen begeisterte sie sich für das geflochtene Zaumzeug des Kutschtieres. Die Knüpfarbeit nötigte ihr geradezu euphorischen Respekt vor dem handwerklichen Geschick der Zigeuner ab, ja sie glaubte sogar, das kunstfertige Pferdehalfter einem bestimmten Roma-Stamm zuordnen zu können, dessen Namen ich noch nie gehört hatte. Trotzdem befremdete mich die Soziologin weit mehr als jeder Zigeuner, dem ich je begegnet bin. Die Frau hatte sich ihr enormes Wissen komplett angelesen. Als wir uns verabschiedeten, verriet sie mir, noch nie in ihrem Leben eine Zigeunersiedlung betreten zu haben. Ein Hinweis sei an dieser Stelle eingefügt. Sollte die hier verwendete Terminologie zu Irritationen führen, ein Plädoyer für das Wort »Zigeuner« und Einblicke in einen grotesken Streit um die korrekten Begriffe liefert das Kapitel 8.
    Der keimfreie Diskurs über die »Sinti und Roma« wird heute weitgehend von Antiziganismusforschern bestimmt, die Jahre in Bibliotheken und am Schreibtisch verbringen, aber keinen einzigen Tag ihres Lebens mit den Zigeunern auf osteuropäischen Müllkippen teilen; die von Kongress zu Kongress reisen, doch albanische, bulgarische oder ukrainische Elendsviertel nicht einmal vom Hörensagen kennen; die ignorieren, dass rumänische Waisenheime von Roma-Kindern überquellen, weil deren Eltern in westeuropäischen Fußgängerzonen betteln; die nie ungarischen Romungros eine Kiste Bier spendieren, nachdem sie beim Armdrücken verloren haben; die nicht mit spanischen Gitanos Tage und Nächte durchfeiern, aber trotzdem meinen, auf akademischen Podien den Sinti und Roma ihre Stimme geben zu müssen, verbunden gewöhnlich mit der Belehrung, wie rassistisch und antiziganistisch die Dominanzgesellschaft ist.
    Als der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy 2010 rumänische Roma aus französischen Vorstädten ausweisen und ihre Lager zerstören ließ, nahm der Philosoph André Glucksmann die Abschiebungen zum Anlass, die Ressentiments gegenüber den Zigeunern im »postmodernen Europa« kollektivpsychologisch zu deuten. In dem Essay »Die Angst vor uns selbst« schrieb Glucksmann in der Welt: »Die Aufhebung der Grenzen, die Europäisierung der Nationen, die Globalisierung des Kontinents, das alles schleudert jeden von uns in ein Universum ohne klare Orientierung und ohne feste Normen.« Der Rom, erklärte der französische Denker, »ist uns ein Abbild des Entwurzeltseins, ein beängstigender Teil unseres Schicksals! Die Furcht vor den Roma ist nur die uneingestandene Angst vor uns selbst.« Mag sein.
    »Bleib von den Zigeunern weg!« Den Ratschlag gab mir eine verhärmte Rumänin aus Apold, als ich sie im Herbst 1990 nach dem Weg nach Wolkendorf fragte. Ihre Begründung, »die Schwarzen« würden Kirchenbänke verheizen, Glühbirnen stehlen und den Leuten die Kartoffeln vom Acker klauen, entbehrte nicht eines gewissen Erfahrungskerns. Ihre Warnung indes, nie meine Fotoapparate aus den Augen zu lassen, erwies sich als unbegründet. Zumindest in Wolkendorf. Hier konnte ich keine achtsameren Begleiter finden als die Kinder der Gabor-Zigeuner, die mir nicht von der Seite wichen und sich ständig zankten, wer meine Fototasche tragen durfte. Dass die Gabor, nebenbei bemerkt, die wohlmeinende Bezeichnung Roma ablehnten und darauf bestanden, Tzigani genannt zu werden, hielt ich einst mit dem Dünkel politischer Aufgeklärtheit für einen Mangel an ethnischem Selbstbewusstsein. Ich sollte mich irren.
    Seit ich den Rat der Rumänin ignorierte, habe ich weit mehr als einhundert Reisen zu Zigeunern in zwölf europäischen Ländern unternommen. Dabei war ich nicht als Ethnologe, Soziologe oder Menschenrechtler unterwegs, sondern als Berichterstatter und Fotograf. Ich war ein Besucher. Ein Gast. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Rückblickend entsinne ich mich keiner Situation, in der man mir die Tür verschlossen hätte. Dennoch: Trotz aller Offenheit, Gewogenheit und Herzlichkeit blieb ich nicht selten
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