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Zeit der Wut

Zeit der Wut

Titel: Zeit der Wut
Autoren: Giancarlo de Cataldo
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Gelegenheiten musste auch Nicola mitgehen. Im dunklen Anzug und mit Krawatte wurde er in den Salon der jungen Leute geschubst, wo die Söhne und Töchter der Mitglieder tanzten und sich verlobten. Nicola tanzte nicht und noch weniger verlobte er sich. Er litt schon seit geraumer Zeit unter der schleichenden Krankheit der Gleichgültigkeit in Liebesdingen, und deshalb stand er bei diesen Abenden, auf die sich seine Freunde und Schulkameraden so sehr freuten, immer am Rand. Am schlimmsten war es, wenn eine halbe Stunde vor dem Ende nur mehr langsame Schlager aufgelegt wurden und das Licht gedämpft wurde. Jetzt ging es darum, den Abend zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. In der Mitte des Salons bildeten sich Pärchen, entlang der Wände standen die Unsicheren, die Ausgeschlossenen, die Hässlichen. Und er, der in seinem Inneren stolz die Entscheidung verteidigte, an dieser lächerlichen Komödie nicht teilzunehmen, musste das Feld räumen, bevor – was schon des Öfteren vorgekommen war – ein mehr oder weniger hässliches Mädchen, das von allen verschmäht wurde, sich ihm anbot und er Hals über Kopf die Flucht antreten musste.
    Hin und wieder ging er auch mit seinem Vater in den Zirkel. Der Initiationsritus für die ungefähr fünfzehn, sechzehn Jahre alten männlichen Söhne bestand darin, an den Abenden der Väter teilzunehmen, ihren freizügigen, doppeldeutigen Gesprächen zu lauschen, den Erzählungen über erotische Heldentaten, die diese in der Heimat und anderswo begangen hatten und die vor allem in spontanen Eroberungen von Kellnerinnen und Stripteasetänzerinnen bestanden, denn über die echten Geliebten sprach man nicht in Anwesenheit der Söhne oder gar der ahnungslosen Ehemänner. Diese augenblinzelnden und oft sehr geschmacklosen Erzählungen waren eine Art sexueller Einführungsunterricht für die Sprösslinge der palermitanischen Anwälte und Ärzte, und sie lachten, stießen sich mit dem Ellbogen an und gaben ebenfalls ein paar vulgäre Sprüche von sich.
    Nicola hingegen wurde rot, schämte sich unweigerlich für sich, seinen Vater, seine Mutter. Und mehr oder weniger bewusst, schwor er sich, dass er sich niemals in diesen Kreis der Heuchler mit ihrer Doppel- und Dreifachmoral hineinziehen lassen würde. Seinem Vater war sein kaum verhohlenes Missfallen nicht verborgen geblieben, und er hatte darauf mit typisch südlichem Sarkasmus reagiert: Du bist zu ernsthaft, zu anständig, denk daran, dass der Beste in der Schule der Schlechteste im Leben ist. Und wenn ein paar Klassenkameradinnen, denen er Nachhilfe in Philosophie gab, zu ihm nach Hause kamen, lag in seinen Augen eine Art Befremden und Mitleid. „Der Herr schickt einem Zahnlosen Brot“, hatte er ihn sagen hören, und einmal hatte er sich mit seiner Frau besorgt darüber unterhalten, ob der Junge vielleicht nicht ein wenig schwul war. So war es also. Vor all dem war Nicola davongelaufen. Und wie es schien, lief er noch immer davon. Aber was für Gedanken, was für kleinbürgerliche Gedanken angesichts dessen, was gerade vor sich ging …
    Seufzend hatte er einen perfekten Windsorknoten geknotet, da klopfte es plötzlich an der Tür. Während er hinging, fragte sich Nicola, ob er nicht lieber seine Waffe hätte einstecken sollen. Aber wozu? Um sich bei der erstbesten Gelegenheit einen Schusswechsel zu liefern? Wenn er sich an einem toten Punkt befand, wusste der Kommandant sehr gut, dass er nun an diesem Punkt war, also weshalb sollte er ihn ausgerechnet jetzt erschießen? Die einzige Vorsichtsmaßnahme, die er nach reiflicher Überlegung traf, bestand darin, einen Blick auf den Bildschirm der Überwachungskamera am Türpfosten zu werfen. Es war Daria. Sie schien nervös zu sein, es gar nicht erwarten zu können, ihn zu sehen. Nicola spürte, wie er beinahe rot wurde. Wenn sie wüsste, was er gerade eben …
    – Heute Nacht geht es los, sagte Daria, die wie ein unerwarteter Wirbelwind hereinstürmte. Wir wissen, wo und wann sie zuschlagen werden. Und wie. Ich erkläre dir alles.

Neunter Teil
Das Theater der Angst

1.
    Alissa kam um neun Uhr fünfundvierzig mit einem Air-France-Flug in Paris an. Eine Stunde später bezog sie eine Suite im Hôtel d’Aubuisson, am Rande des Quartier Latin. In einem Bistro auf der Place de la Nation aß sie mit Didier zu Mittag. Er erklärte ihr, wie und wo sie den Kontakt herstellen könnte, dann steckte er ihr eine Smith & Wesson Kaliber 33 mit kurzem Lauf und professionellem Schalldämpfer in die
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