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Zeit der Wut

Zeit der Wut

Titel: Zeit der Wut
Autoren: Giancarlo de Cataldo
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Augenblick vorausgeht, in dem der menschliche Dschungel erwacht. Aus dem großen Park der anonymen Villa an der Via Cassia drangen das schwache Morgenlicht herein und der dunkle Schrei wie von einem rauchigen Saxofon, mit dem Charlie Mingus, die Schleiereule, die seit ewigen Zeiten in einer uralten Steineiche hauste, die verdiente Ruhe antrat, nachdem sie die letzte Feldmaus verzehrt hatte.
    Es war an der Zeit, zur Tat zu schreiten. Die Tiere der Nacht verabschiedeten sich und zogen sich in ihre feuchten Höhlen zurück, und die elende Menschheit bereitete sich auf einen weiteren Tag sinnlosen Kampfes vor. Lupo betrachtete seine Morgenlatte und fragte sich, ob es eine Beziehung zwischen dem pünktlich wiederkehrenden hydraulischen Phänomen und der Tatsache gab, dass er gerade eben an seine Mitarbeiterin gedacht hatte. Für Lupo war die Morgenlatte eine Art Wunder. Wie ein am Eingang des Dorfes, an der Grenze zur Wüste aufgestelltes Totem, schien ihn sein triumphal aufgerichteter Penis jeden Morgen daran erinnern zu wollen, dass vor dem Erwachen der Schlaf ist, ein Territorium ohne Gesetz und Ordnung. Dieses Niemandsland zwischen dem Instinkt, der seine Nächte beherrschte, und der genauen, unbeugsamen Rationalität, in deren Zeichen seine Tage standen, verschwand allmählich, während er die Morgenrituale ausführte. Duschen, Rasieren, Maniküre, Pediküre.
    Er dachte noch immer an Daria. Seit geraumer Zeit dachte er an sie und nicht mehr an die unbestimmte, abstrakte Frau, die früher immer wieder in seiner Fantasie aufgetaucht war. Aber wenn eine konkrete Form an die Stelle einer Abstraktion tritt, wird die Sache gefährlich. Beim Aufwachen hatte er nicht länger das Gefühl, neben irgendeiner unbestimmten Frau zu liegen. Er stellte sich vor, im Bett neben Daria zu liegen und dann mit ihr zu schlafen. Daria. Eine merkwürdige, überhaupt nicht kühle Frau, die – im Gegensatz zu ihm – vielmehr dazu neigte, die Vorteile ihres Singledaseins zu genießen. Eine wertvolle Mitarbeiterin. Niemand wäre es aufgefallen, wenn sie die Rollen getauscht hätten: Daria am Steuer und er am Ruder. Loyal. Wenn Lupo zum Beispiel beschlossen hätte – und er dachte ernsthaft darüber nach –, sich über das Zögern seines Netzwerks hinwegzusetzen und noch am selben Morgen den Kommandanten und seine Gefolgsleute verhaften zu lassen, hätte sie augenblicklich mitgemacht. Wäre es nicht wunderbar, das Leben mit einer Person zu teilen, die ihm so ähnlich war? Noch dazu wo er ihr, wie es schien, nicht ganz gleichgültig war …
    Wenige Minuten später war der Gedanke schon wieder verschwunden. Lupo hatte sich im Spiegel betrachtet, mit frisch rasierten Wangen, und hatte sich vorgestellt, wie sie hereinkam. Sie in seinem Badezimmer, auf der Suche nach Lockenwicklern und Wellenkämmen, dem weiblichen Rüstzeug, das er auf dem Kopf seiner Mutter gesehen hatte. Vielleicht war ihm die Vorstellung des Zusammenlebens ausgerechnet von dem Bild einer Frau in Morgenmantel und Pantoffeln, mit Lockenwicklern im Haar, auf immer verleidet worden. Oder, noch schlimmer, die Schizophrenie, die er als Kind miterleben hatte müssen. Ja, genau, Schizophrenie. Gegen Abend verwandelte sich die schlampige Hausfrau in eine elegante, geschminkte Dame, die sich in Erwartung ihres Mannes hübsch machte. Nicola war damals noch ein Kind. Er wohnte mit seinen geliebten Eltern in einem Palazzo aus dem 18. Jahrhundert, hinter dem Teatro Massimo, im Zentrum Palermos. Damals war seine Mutter noch über beide Ohren in ihren Mann verliebt und hoffte, wenn schon nicht die einzige Frau ihres Mannes, so doch die Lieblingsfrau, die Ehefrau, die Mutter seines einzigen Sohnes zu sein. Ein paar Jahre später fand sie heraus, dass es noch weitere Lieblingsfrauen und vielleicht auch Kinder gab, die in jenen drei Tagen entstanden, die ihr Mann in seiner zweiten Kanzlei in Santo Stefano di Camastra verbrachte, oder während seiner häufigen Reisen nach Rom, wo er die Notariatskammer besuchte, deren Vorsitzender er war. Da hörte Donna Elvira auf sich umzuziehen, und hin und wieder setzte sie sich mit Lockenwicklern und im Morgenmantel, mit zerrissenen Strümpfen zum Abendessen, denn außer ihm, Nicola, der inzwischen ein junger Mann war, war niemand da. Don Rosario blieb immer öfter zum Abendessen im Circolo Unione. Dort waren Frauen nur an offiziellen Festtagen, zu Weihnachten, zu Ostern, am Jahrestag der Gründung und am Vorabend von Santa Rosalia, zugelassen. Bei diesen
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