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Zeit der Wut

Zeit der Wut

Titel: Zeit der Wut
Autoren: Giancarlo de Cataldo
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so heftig, dass sie einen Schrei ausstieß.
    – Entschuldige, flüsterte er und ließ sie los.
    Sie blickte ihn überrascht an, als ob sie ihn zum ersten Mal sähe. Dann versuchte sie eine Rechtfertigung.
    – Ich verstehe dich. Es ist nicht der richtige Abend.
    Nein, es hatte nichts mit dem Abend zu tun. Und nicht einmal mit Monica, der Ärmsten. Alles war falsch, alles. Nur eine einzige Frau wäre imstande gewesen, die WUT zu besänftigen. Aber auch sie hatte irgendwann einmal aufgeben müssen.
    Später holte Marco den Portier Pierino aus dem Schlaf, ließ sich das Fitnessstudio im Tufello aufschließen und malträtierte methodisch den Boxsack.
    Im selben Augenblick führte Dantini im Hof von San Vitale, dem Sitz des Ersten Polizeidistrikts, ein Telefongespräch.
    – Hallo Lupo. Ja, es war Pilićs Bande. Alle tot. Wir sehen uns, sobald du nach Rom kommst. Nein, ich möchte dich unter vier Augen sprechen. Gegebenenfalls sende ich dir ein E-Mail an jene Adresse …
    Er schaltete das Handy aus und betrachtete das Blaulicht auf dem Dach des Dienstwagens, mit dem er gleich nach Hause fahren würde. Ja, er würde Lupo noch an diesem Abend schreiben. Er wusste, dass irgendetwas Hässliches passieren würde. Oder bereits passiert war. Und er hatte ein komisches Gefühl, das der Angst sehr ähnlich war.

Zweiter Teil
Rossana

1.
    Salah war Ägypter. Klein, korpulent, und seine Beine waren so krumm, dass sie ihn kaum trugen und er sich mit den muskulösen Armen festhalten musste, um vom Gerüst zu steigen. Der Affe, wie sie ihn auf der Baustelle nannten. Der Partieführer hatte ihm diesen Namen angehängt, und die anderen Arbeiter hatten ihn sofort übernommen. Der Partieführer hasste Salah. Der Partieführer hasste alle, die mit ihm arbeiteten. In seinen Augen waren sie nur Abschaum. Einwanderer, die nur klauten und ihre Frauen vergewaltigten. Für Salah war das nichts Neues. Er war in Frankfurt gewesen, in Marseille, er war in ganz Europa gewesen. Und überall war er demselben Hass begegnet, derselben Gleichgültigkeit. Salah zog den Kopf ein und lachte über die freundlicheren Beleidigungen. Salah tat so, als würde er die brutaleren Beleidigungen nicht verstehen. Die Bösartigkeit glitt an ihm ab. Er brauchte ja nur noch ein Jahr durchzuhalten. Dann würde sich alles ändern. Es kam nur darauf an, dass die Brüder keinen Verdacht schöpften.
    – Salam aleikum, Bruder!
    – Aleikum Salami, Bruder!
    Hamid wartete am Eingang der Baustelle. Hamid war zwanzig Jahre alt und hatte sich an die Grausamkeit der Menschen noch nicht gewöhnt. In Damietta war er Fischer gewesen, ein tüchtiger Fischer, Sohn eines Fischers, Enkel von Fischern, ein treuer Jünger seines Herrn und Propheten. Ein Sturm hatte ihn zur Waise gemacht, aufgrund eines weiteren Sturms war er in Mubaraks Gefängnis gelandet. Hamid war ein Kämpfer. Hamid glaubte tatsächlich, das Schwert der Gerechtigkeit würde eines Tages die unreine Ordnung des Universums hinwegfegen und die Regierung der Gerechten wieder einsetzen. Er bereitete sich auf diesen Tag vor, indem er wie besessen den Koran studierte. Salah hatte den Jungen ins Herz geschlossen. Es hätte ihm leidgetan, ihn opfern zu müssen.
    Gemeinsam gingen sie in die Baracke, die als Garderobe diente, zogen sich um, verließen die Baustelle, ohne dass es jemand der Mühe wert fand, sich von ihnen zu verabschieden. Salah hörte, wie Hamid flüsterte: „Eines Tages …“ und schüttelte den Kopf. Ich wünsche dir, dass dieser Tag nie kommt, Bruder, ich wünsche es dir aus ganzem Herzen.
    Die Moschee befand sich in der Via della Bufalotta, fast auf der Höhe des Grande raccordo anulare, der ringförmigen Autobahn, die die Hauptstadt der Christen umschließt. Die Moschee war in einer alten Garage mit abgeblätterten Wänden untergebracht. Wer an die eigene Seele glaubt, dachte Salah in einem Anflug von Bedauern und Neid, wer mit Aufrichtigkeit und Hingabe an die eigene Seele glaubt, gibt sich mit wenig zufrieden. Vor langer Zeit hatte auch er geglaubt. Vor sehr langer Zeit.
    Am Eingang zogen sie die Schuhe aus, gingen hinein, suchten sich einen Platz zwischen den Brüdern, die auf dem mit Gebetsteppichen bedeckten Boden knieten. Im Augenblick des Gebets richteten alle den Blick auf den Imam.
    – Bruder Mamoud ist verhaftet worden!, verkündete er feierlich.
    Ein Beben ging durch das kleine Grüppchen der Gläubigen. Salah blickte sich um. Hamids Augen füllten sich mit Tränen. Wenn er nicht predigte,
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