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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit
Autoren: Rose Tremain
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schrecklicher Anblick ich in der letzten Zeit doch immer bin, denke ich …
    Ich ziehe die Bettvorhänge zurück. Auf einem kleinen Eichentisch steht ein Porzellanteller mit einem Rosinenkuchen, und der Anblick dieses Kuchens erweckt in mir einen riesigen Hunger, als hätte ich seit einer Woche nichts gegessen. Ich schneide mir also ein Stück davon ab und stopfe es mir mit abstoßender Hast in den Mund. Dann esse ich ein zweites Stück, und die Krümel rollen mir übers Kinn.
    Als nächstes komme ich zu der Überzeugung, daß der Tag, an dem ich aufgewacht bin, welcher es auch sein mag, ein Tag voller Sonnenschein ist. Ich kann noch keine Sonne sehen, weil das Olivenzimmer nach Norden geht, doch ich weiß, daß ich nur zur Vorderseite des Hauses gehen muß, um es zu finden: das strahlende Licht.
    Daher verlasse ich, so wie ich bin, im Nachthemd und mit Kuchenkrümeln in den Mundwinkeln, das Zimmer und gehe hinaus auf den Treppenabsatz, und dort sehe ich, wie vorausgesagt, das Licht der Sonne auf die Stufen fallen. Ich stehe da und schaue hinunter. Und langsam sehe und höre ich, nach einigem Blinzeln und Augenreiben und nachdem ich mir die Nachtmütze abgenommen habe, ein höchst merkwürdiges Spektakel: Die Halle ist voller Hunde. Es sind sicher sieben oder acht – kleine Spaniels wie meine arme Minette –, die aufgeregt und kläffend im Kreise herumrennen.
    Ich versuche angestrengt, mir darüber klarzuwerden, ob die Hunde wirklich da sind oder nur in meinem angegriffenen Gehirn, kann aber zu keiner Entscheidung kommen. Ich
muß hinuntergehen, sage ich mir, und versuchen, einen von ihnen anzufassen, und wenn er nicht verschwindet oder sich in ein gelbes Tuch verwandelt wie das Büschel Schlüsselblumen, dann weiß ich, daß er lebendig ist und keine Halluzination.
    Ich bin barfuß, doch das von der Sonne polierte Holz der Treppe fühlt sich warm an. Beim Hinuntergehen bemerke ich, daß die Haustür offensteht, und ich sehe Schatten auf dem Kies, als ob sich Leute hin und her bewegen, und irgendwo in meinem Kopf, der so vollgestopft mit Schlaf ist, weiß ich, was das zu bedeuten hat, wenn es mir auch nur ganz langsam ins Bewußtsein kommt … ganz langsam … wie eine alte Erinnerung, die eingerostet und vergessen ist und halb verborgen irgendwo ruht … und dann bin ich in der Halle und rufe einen der Hunde zu mir, und sie kommen alle, scharen sich um mich und springen mich an, gegen meine Beine und meine ausgestreckte Hand, und wedeln mit dem Schwanz. Ich bin völlig von ihnen eingekreist. Sie sind ganz gewiß Wirklichkeit, Merivel, sage ich zu mir, denn zwei von ihnen beißen in den Saum deines Nachthemds, und du hörst schon, wie es reißt. Doch ich versuche nicht, die Hunde wegzustoßen. Ich freue mich über ihre Aufregung. Ich denke: Wie lieb und hübsch sie doch sind! So fange ich an, mit ihnen zu spielen, lasse meine Nachtmütze vor ihnen baumeln, so daß sie hochspringen und hineinzubeißen versuchen, und schnappe sie ihnen wieder weg, und als ihr Kläffen und ihre Aufregung durch mein Necken stärker wird, höre ich mich wie ein Kind lachen.
    Und dann fällt ein sehr langer Schatten über den goldenen Boden und über mich und mein Lachen. Im gleichen Augenblick fängt einer der Hunde an, den ganzen Saum meines
Nachthemds herunterzureißen. Da schaue ich auf und sehe den König.
     
    Der König tat, als bemerkte er nicht, daß ich ohne Perücke, unrasiert und barfuß war und ein zerrissenes Nachthemd voller Kuchenkrümel trug, und lud mich mit sanfter, freundlicher Stimme zu einem kleinen Rundgang durch den Park ein.
    Während eine Gruppe livrierter Stallburschen und Lakaien – unter Anleitung von Will, der seltsamerweise auch eine Livree trug – eine große Anzahl Schrankkoffer und Kisten von zwei prachtvollen Kutschen ablud, gingen wir ein Stück die Auffahrt entlang, wandten uns dann nach links und liefen durch das Gras zu einer Reihe Rotwild, das dort im Schatten äste. Die Hunde rannten vor uns her, jagten sich und bellten.
    Bis dahin waren wir, ohne ein Wort zu sagen, gegangen. Doch nun blieb der König plötzlich stehen, wandte sich um und blickte zurück zum Haus.
    »Es gehört jetzt mir«, sagte er.
    Ich sah ebenfalls zum Haus hin. Zum Landhaus Bidnold in der Grafschaft Norfolk …
    »Wie bitte, Eure Majestät?« fragte ich.
    »Ihr habt mich richtig verstanden. Es gehört jetzt mir.«
    »Euch …?«
    »Ja.«
    »Und der Verkauf an den Vi–?«
    »Ich habe nie das Geld dafür bekommen.
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