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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit
Autoren: Rose Tremain
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Das versprochene Geld. Geld, das ich für die Ausstattung eines Schiffes verwenden wollte, aber nie bekommen habe. So wird Bidnold jetzt ein Schiff sein müssen.«
    »Ein Schiff sein?«
    »Ja. Versteht Ihr?«
    »Nicht ganz …«
    »Es soll mein Schiff sein, mit anderen Worten: Ich möchte in ihm gelegentlich meinen Sorgen davonsegeln. Jetzt versteht Ihr es, n'est-ce pas ? Ihr vor allen anderen müßtet es doch verstehen, nicht wahr, Merivel? Es ist der Ort, wo ich zum Träumen hingehen werde.«
    Ich nickte. Der König beobachtete mich. Ich wollte ihm sagen, daß er keinen besseren Ort hätte wählen können, doch unter seinem Blick fielen mir die Worte schwer.
    »Ihr braucht nichts dazu zu sagen«, fuhr er fort, »denn ich weiß, was Ihr fühlt. Doch seht Euch das hier an. Erinnert Ihr Euch, wem Ihr es gegeben habt?«
    »Was soll ich mir ansehen, Sir?«
    »Das hier.«
    Der König streckte seine Hand aus (die von einem smaragdfarbenen Handschuh umhüllt war), und ich sah darin eine kleine schmutzige, gewellte und abgenutzte Karte. Ich nahm sie und schaute sie mir an, und nachdem ich ein oder zwei Sekunden verständnislos darauf geblickt hatte, erkannte ich meinen Namen, R. Merivel. Arzt. Chirurg. , und meine alte Adresse in Cheapside.
    Ich sah auf. Auf dem Antlitz des Königs breitete sich jetzt jenes Lächeln aus, das auf mein Herz eine solch unbeschreibliche Wirkung hat.
    »Ja«, sagte er, »Eure Karte. Die mir kurz nach dem Feuer einer meiner Hutmacher, Arthur Goffe, gezeigt hat. Er erzählte mir, daß Ihr es wart, der seiner Frau das Leben rettete.«
    »Nun, ich und ein anderer Mann, der viel größer und stärker war als ich. Ich wußte aber nicht, daß der Mann dieser Frau einer von Euren Leuten ist.«
    »Nein. Natürlich nicht. Und selbst wenn Ihr es gewußt hättet, so würde wohl nicht ich Euch zu einer solchen Heldentat angetrieben haben. Das waren andere, nicht wahr? Ein gewisser Handschuhmacher und seine liebe Frau?«
    »Ja.«
    »Welch ein Glück, Merivel! Denn es ist meine Überzeugung, daß wir erst dann richtig leben können, wenn wir alle Schulden an unsere Eltern beglichen haben. Denn sie und ihren Tod können wir nie vergessen. Ist es nicht so?«
    »Ja.«
    »Selbst in einem Alter, in dem wir die vorzügliche Kunst des Vergessens praktizieren, bleiben doch gewisse Dinge.«
    »Ja.«
    »Und zu diesen Dingen gehört, wenn ich mich nicht irre, Eure Liebe zu Bidnold.«
    »Ja. Ich liebe es. Ich liebte es vom ersten Tage an –«
    »Daher wußte ich, daß Ihr hierher zurückkommen würdet. Gates und ich waren da einer Meinung. Wir wußten, daß Ihr eines Tages kommen würdet und daß ich Euch so wiederfinden würde.«
    »Ihr wußtet das?«
    »Natürlich. Ich erinnere mich auch, daß Ihr von einem Zimmer immer ganz besonders entzückt wart, einem runden Zimmer im Westturm, und doch habt Ihr, wie ich hörte, nie eine Verwendung dafür gefunden.«
    »Nein. Ich glaube, als ich noch hier wohnte, habe ich immer gedacht, daß dieser Raum … meine Grenzen überschreitet … zu hoch für mich ist, oder so etwas … daß es mir daher nicht möglich war zu verstehen, wie ich ihn einrichten sollte … beinahe so, als sei er ein Teil meines Geistes, der sich mir noch nicht erschlossen hatte.«
    »Warum geht Ihr dann nicht hin und schaut ihn Euch jetzt an?«
    »Jetzt?«
    »Ja.«
    »Nun, Sir, ich tue es, wenn Ihr es wünscht, doch eigentlich würde ich lieber unseren Spaziergang fortsetzen.«
    Der König brach in lautes Lachen aus, womit er das Wild erschreckte und auseinandertrieb.
    »›Unseren Spaziergang fortsetzen!‹ ›Unseren Spaziergang fortsetzen!‹ Seht mich an, Merivel!«
    Ich versuchte, dem König ins Gesicht zu sehen, doch die Sonne blendete mich, so daß ich mir die Hand vor die Augen halten mußte.
    »Geht zurück ins Haus«, wies mich der König an, »und die Treppe hinauf und in diesen leeren Raum. Und seht, ob Ihr ihn jetzt besser versteht.«
    »Jawohl, Sir.«
    »Dann können wir unseren Spaziergang fortsetzen, wenn Ihr wollt.«
    »Wie Ihr wünscht, Majestät.«
    »Nun geht schon!«
    Ich schwieg und sah zum Westturm hoch. Vor vielen, vielen Monaten hatte ich wieder einmal an diesen Raum gedacht, der in Wirklichkeit nie ein richtiger Raum, sondern nur ein leerer Ort gewesen war. Auf den drei Fenstersimsen scharten sich ein paar weiße Vögel.
    »Pfautauben«, sagte der König, »sehr hübsch, finde ich. Vielleicht habt Ihr von Zeit zu Zeit den Wunsch, das Fenster zu öffnen und sie
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