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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit
Autoren: Rose Tremain
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seltsam dünn geworden. In der Taille war meine Kniehose mehr als zwei Zoll zu weit, so daß das elende Ding nicht oben bleiben wollte, und als ich mir den Rock anzog, stellte ich fest, daß er wie ein Cape von meinem Rücken abstand. Ich zog mein Hemd hoch und betrachtete meinen Leib. Er sah geschrumpft und ein wenig faltig aus, und all die Nachtfalter darauf, die so viel von ihrem Gebiet verloren hatten, waren eng zusammengedrängt.
    Ich setzte mich auf einen der vier Stühle, die zum Mobiliar dieses Zimmers gehörten (die Stühle waren so zart und zierlich, daß ich mich oft fragte, ob sie der Lautenbauer vielleicht selbst als Abwechslung zu seinen hohlen Sachen hergestellt hatte), und versuchte, aus den Veränderungen in meiner Erscheinung wie aus einer Hand zu lesen , zu erforschen, was
sie ankündigten und bedeuteten. Denn ich bin in meinem ganzen Leben noch nicht dünn gewesen. Meine Mutter hatte mir immer erzählt, daß ich ein pummeliger Säugling gewesen sei, und der Moiréanzug, den ich als Junge trug, spannte immer so über meiner Brust, daß manchmal – ich kann mich noch recht gut daran erinnern – die winzigen Knöpfe absprangen, wenn ich lachte. Selbst als Student war ich wohlbeleibt gewesen, und zum Zeitpunkt des fünften Anfangs dieser Geschichte war ich, wie Ihr Euch vielleicht erinnern könnt, von einer behaglichen Korpulenz. Jetzt nun fiel ich vom Fleisch, und jeder meiner Knochen schien allmählich freigelegt und sichtbar zu werden. Es war unmöglich, dabei nicht an Pearce zu denken, der in seinen Kleidern zu Haut und Knochen geschrumpft war, und so saß ich also da – ein dünner Mann auf einem zierlichen Stuhl – und fing an, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß ich sterben würde.
    Ich durchforstete mein Gedächtnis nach irgendwelchen Schmerzen und Beschwerden. Dann horchte ich auf meinen Herzschlag und meine Atemtätigkeit. Ich stand auf, pißte ein wenig in einen Topf und schaute meinen Urin auf Trübungen und Blutstropfen hin an, dann schnupperte ich wie ein Weinkenner an ihm, um festzustellen, ob er sauer oder übel roch. Da ich darüber die Abendgesellschaft des Anwalts völlig vergaß, zog ich die zu groß gewordenen Kleider aus und zündete mehrere Kerzen an, die ich neben das Fenster stellte: Nun sah ich mich in diesem gespiegelt. Für jemanden, der zufällig vom Fluß heraufgeschaut hätte, wäre das ein überaus erheiternder Anblick gewesen: Merivel, so nackt wie Adam, der sich auf der Suche nach irgendwelchen Schwellungen oder Verfärbungen die einzelnen Teile seines Körpers anschaute – seine Zunge, seine Achselhöhlen, seine Brustwarzen, seine
Nase, seine Leistengegend und seine Knie. Dieser Merivel zitterte ein wenig in der Kühle des Märzabends und war alles in allem so dürr und fanatisch wie jener nackte Quäker mit den glühenden Kohlen.
    Ich konnte nichts finden, was nicht in Ordnung war. Mein Herzschlag war kräftig, mein Körper zeigte keine Spuren außer denen, die der Gewichtsverlust und die Zeit selbst hinterlassen hatten. Ich zog mein Nachthemd an, legte mich auf mein schmales Bett und dachte über alles nach, was ich seit dem Feuer erlebt hatte. Ich erkannte, daß mein Leben eine recht einsame Angelegenheit geworden war und daß es darin ein anomales Phänomen gab, und zwar, daß ich ab und zu Dinge sah und hörte, die gar nicht da waren. So hörte ich zum Beispiel auf der Treppe das Kläffen eines Hundes. Einmal war ich mir so sicher gewesen, daß das Tier draußen stand, daß ich die Tür öffnete und erwartete, es werde hereinkommen und mit dem Schwanz wedeln, doch weit und breit war kein Hund zu sehen. Die Dinge, die ich sah, waren nicht weniger beunruhigend und unerklärlich. Ich sah auf den glitschigen Stufen an der Southwark Bridge ein Büschel Schlüsselblumen, die mir so wirklich vorkamen, daß ich mich hinabbeugte, um eine zu pflücken, doch es handelte sich gar nicht um Blumen, sondern um ein blaßgelbes Taschentuch, das ein Geck gedankenlos hatte fallen lassen, als er in ein Boot getänzelt war. Ein andermal sah ich in der Hand einer meiner Patientinnen ein Stück schwarze Seife, doch als ich ihre Hand öffnete, war sie leer.
    Ich lag da und überlegte, was diese Neigung zu Halluzinationen bedeuten mochte – ob ein Nachlassen geistiger oder, was unwahrscheinlich war, ein Erwachen seherischer Fähigkeiten. Ich kam darüber zu keinem Schluß, und als ich eine
Weile mit halbgeschlossenen Augen in das flackernde Kerzenlicht geblickt
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