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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit
Autoren: Rose Tremain
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wiederaufzu
bauen, wie es gewesen war. Doch ich mußte feststellen, daß ich mich gar nicht mehr daran erinnern konnte, wie es gewesen war, so daß es für mich ganz und gar verloren war, und diese Erkenntnis machte mich so übellaunig und traurig, daß ich wieder einmal in meine alte Gewohnheit verfiel, lange Zeit auf meine Handrücken zu starren, so, als wäre mein Glaube, daß ich, Merivel, die Stadt wieder aufbauen konnte, erschüttert worden.
    Ich war nicht der einzige, der sich so traurig fühlte. Auf jeden, den ich in den Monaten nach dem Feuer wegen seiner Verbrennungen behandelte, kam ein anderer mit einem Leiden zu mir, das er nicht anders benennen konnte als »eine Melancholie des Körpers und der Seele«. Die Verbrennungen linderte ich mit Schilfrohrbalsam und Gerstenextrakt, aber ich wußte nicht, wie ich die Melancholie lindern sollte. Mehr als einmal mußte ich an die Weise Nell mit ihrem Schwalbenblut denken. Kurzum, ich begann mich zu fragen, ob nicht alle Behandlungen von Traurigkeit ein magisches Element einschlossen, das sich meinem Verstehen entzog.
    Während ich so auf den Lautenbauer und das Rauschen des Regens vor meinem Fenster lauschte, drehte ich meine Hände eines Abends um und betrachtete die Linien meiner Handteller, um zu sehen, ob ich meine Zukunft daraus ablesen konnte; das war mir aber nicht möglich, da mich niemand gelehrt hatte, die Linien zu deuten. Ich bemerkte jedoch, daß sich die Liebeslinie – besonders die meiner linken Hand – gleich am Anfang aufteilte. Diese Entdeckung ließ mich nicht nur lächeln, sondern bestärkte mich auch in meinem Glauben, daß bestimmt noch weiteres exaktes Wissen auf meiner Hand geschrieben stand, das ich nur richtig lesen mußte. Ich begann nun, wenn auch etwas träge, nach einem
Chiromanten zu suchen, gab mein Vorhaben aber bald wieder auf, da ich den Eindruck gewann, daß gut die Hälfte der Leute, die noch in London weilten, behauptete, Handliniendeuter zu sein, und für einen kleinen Geldbetrag nach jeder Hand griff und erklärte, darin ein glorreiches Schicksal zu sehen. Einer erzählte mir, daß ich ein Mittel gegen das Altern entdecken würde, ein anderer, daß mich das Verspeisen einer Wachtelpastete vor dem Ertrinken retten würde, »weil Ihr versehentlich auch die Federn gegessen habt, Sir, die Euch dann über den Wellen halten«, und wieder ein anderer, daß mir ewiges Gedenken zuteil werden würde für eine Tat, die ich noch nicht getan, oder eine Reise, die ich noch nicht gemacht hatte. Anfangs spiegelte ich geschickt vor, diese Vorhersagen zu glauben, doch dann verdroß mich plötzlich die Heuchelei, und ich wurde gleichgültig gegenüber allen Zukunftsdeutungen, so daß es mir, als der Herbst vergangen und der Winter gekommen war, schließlich gelang, mich einfach den Erfordernissen des jeweiligen Tages zu stellen und nicht zuviel Zeit mit Träumen zu verschwenden.
    Ich hatte keine Nachricht vom König bekommen. Ich erwartete auch keine, denn nachdem das Haus in Cheapside abgebrannt war, hatte er keine unmittelbare Möglichkeit mehr, mich zu finden, ja, er würde vielleicht nicht einmal erfahren, daß ich dem Feuer entkommen war. Ich hätte ihm schreiben können, tat es aber nicht, weil es mir, je näher mein vierzigster Geburtstag heranrückte, so vorkam, als hätte ich schon so viel Zeit meines rasch dahineilenden Lebens damit verbracht, mir Briefe an den König auszudenken, daß mir die Worte ausgingen.
    Außerdem glaubte ich fest, daß der König mich, wenn er mich eines Tages finden wollte , auch finden würde. Ich wuß
te nicht, wie. Ich konnte es mir nicht einmal vorstellen. Ich wußte nur, daß er mich finden würde. Und daß es für ihn nicht einmal allzu schwer sein würde – denn war er nicht so mächtig, daß sich keine Ecke seines Königreichs seinen Blicken entzog und niemand darin außer Reichweite war?
     
    An einem der ersten Frühlingstage, an dem ich von einem Rechtsanwalt, den ich von einem Magengeschwür geheilt hatte, zu einer kleinen Abendgesellschaft eingeladen war, zog ich wieder einmal meinen marineblauen Rock mit der cremefarbenen Borte (dem Rosie wieder zu seinem früheren Glanz verholfen hatte) und die dazu passende seidene Kniehose an. Da ich in meinem möblierten Zimmer über dem Lautenbauer keinen Spiegel hatte und mich nur gelegentlich in einer Fensterscheibe erblickte, war ich etwas nachlässig mit meinem Aussehen geworden. Daher hatte ich das, was ich jetzt sah, noch nicht gesehen: Ich war
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