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Zeit der Idioten

Zeit der Idioten

Titel: Zeit der Idioten
Autoren: Bernhard Moshammer
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an, an der Basis des Rock’n’Roll. Und wie das Amen im Gebet bewegt die ganze Menge sich mit. Sie rollen auf ihren Fußballen auf und ab, nicken mit den Köpfen oder strecken ihre Arme in die Luft. Es ist ein primitives Ritual. Ein stupider Rhythmus.
    Aber von einer Sekunde auf die andere wird aus dieser ganzen Menge Idioten, die eben noch ihre Köpfe voll mit ihren scheiß Leben gehabt haben, ein Kollektiv, das sich erhebt. Über den Alltag hinaus in eine mögliche, temporäre Alternative. Bin ich pathetisch? Vielleicht, aber nur diese Worte beschreiben mein Gefühl. Mit geschlossenen Augen stehe ich da und genieße den Moment. Und dann singe ich. Ich kann zwar nur die erste Strophe, aber ich singe
Rock’n’Roll Nigger
von Patti Smith. Das hat Snake letzte Woche hier auch gespielt. Aber heute ist alles anders.
    »Baby was a black sheep, baby was a whore
Baby got big and Baby get bigger
Baby get something, Baby get more
Baby Baby Baby was a rock’n’roll nigger
Outside of society they’re waiting for me
Outside of society that’s where I want to be!«
    Stop. Ich höre abrupt auf und alle kreischen, applaudieren, pfeifen und stampfen. Das Kollektiv folgt seinen eigenen Regeln. Es bleibt oben auf der Ebene, auf die die Musik es katapultiert hat, und will mehr. Aber ich gehöre nicht zu ihnen. Ich stehe hier alleine. Und ich falle wieder nach unten. Was soll ich jetzt tun? Ich schaue auf mein Notebook. Es ist weg. Jessas! Nein, da ist es. Es ist nur durch die Vibrationen weggerutscht.
    Ich schiebe es zurück.
    Noch nicht.
    Ich werde jetzt meinen Song spielen.
    Nein, ich werde meinen Song
lesen
. Ihn laut vorlesen und anschließend einen Höllenlärm aus meiner Gitarre prügeln. Ich werde die Gitarre weglegen, aber aufgedreht lassen, mein Notebook nehmen, es aufklappen und einschalten. Es wird mich nach einem Passwort fragen, und ich werde ihm antworten. Mit der einen und einzig gültigen, alles erlösenden Antwort.
    Ich stehe vor dem Mikrofon, ziehe einen Zettel aus meiner Hosentasche und beginne laut zu lesen:
    »Dies ist die Zeit der Idioten,
der jammernden Kojoten,
der ideenlosen
Zombieposen -
Kläffer ohne Pfoten!
    Dies ist die Zeit der Idioten,
der geschmacklosen Quoten,
der Verwöhnten,
geklont Verschönten,
mit ihren eierlosen Zoten
.
    Dies ist die Zeit der Idioten,
der hunderttausend Toten,
von deinem Nachbarn abgesandten
Suizidpiloten!«
    Ich schaue kurz auf und bemerke, dass es ganz still geworden ist. Das verstört mich. Was soll das? Hören die mir etwa zu? Egal, jetzt noch die letzte Strophe. Der fehlt es zwar an Originalität und Schliff, aber mehr ist mir heute nicht eingefallen.
    »Dies ist die Zeit der Idioten,
Pharisäer und Zeloten;
der marktstrategisch
angepassten
Spieler ohne Noten!«
    Ich trete einen Schritt zurück und atme durch. Das Notebook liegt an seinem Platz. Es ist immer noch ziemlich still im Raum. Ich schaue nach unten, direkt in ein Blitzlicht. Jessas, jetzt wird mir schwarz vor den Augen. Aber keine Angst, ich habe mich im Griff. Ich habe alles unter Kontrolle. Langsam sehe ich wieder. Ich sehe … Lena?
    Scheiße, bin ich schon tot?
    Nein, das ist nicht Lena. Es ist Sarah. Was macht die denn hier? Sie ist immer noch verheult. Ihre Augen sind klein und blutunterlaufen und werden von dicken Ringen gehalten, die eine unglaubliche Stärke ausstrahlen. Eine mächtige, unwiderstehliche Mischung aus Leid und Durchhaltevermögen. Sie sieht mich an und lächelt. So ein durch zusammengepresste Lippen gelächeltes Lächeln. Jessasmarandjosef.
    Und jetzt ist sie wieder dieser Magnet, von dem ich gesprochen habe – und ich meine das nicht nur symbolisch. Ich schaue auf ihre Lippen und irgendwie komme ich ihnen näher, so als ob ich von der Bühne abheben und zu ihr hinschweben würde. Aus der Nähe betrachtet sind ihre Lippen gar nicht zusammengepresst, sie sind leicht geöffnet und zittern. Ich bin ihnen jetzt so nahe, dass ich sie berühren könnte. Berühren
muss
. Ich strecke meine Hand aus. Diese Lippen sind riesig. Und, was soll ich sagen, ich bin winzig klein und gleite durch sie hindurch – ich kann es nicht besser erklären –, in eine andere Welt. Nein, in einen Raum. Es ist stockfinster und still. Ich taste mich an einer Wand entlang und spüre einen Lichtschalter sich zwischen meine Finger drängen. Ich drücke ihn. Es wird hell. Da ist eine Tür in einen nächsten, dunklen Raum. Alles, was jetzt in mir ist, konzentriert sich auf den Zwang, den Lichtschalter zu finden. Ich
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