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Zeit der Idioten

Zeit der Idioten

Titel: Zeit der Idioten
Autoren: Bernhard Moshammer
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weiß, irgendwo ist Sarah und ich muss ihr helfen. Sie hat Angst. Sie mag die Dunkelheit nicht. Es muss immer noch ein kleines Licht in ihrem Zimmer anbleiben, wenn sie einschläft. Ich finde den Schalter und da ist der nächste Raum. Das geht immer so weiter. Ich laufe oder schwebe immer schneller. Es ist so anstrengend und hört nicht auf.
    Da sind unzählige Räume und keiner gleicht dem anderen. Ich suche und suche, mache Lichter an und mit der Zeit erkenne ich, dass es einfach kein Ende haben wird. Es wird immer so weitergehen und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann. Aber aufhören kann ich auch nicht. Es ist mir unmöglich, stehenzubleiben. Das ist die Hölle. Ganz bestimmt. Rutsch rüber, Sisyphos, ich bin’s. Das war’s, ich bin in der ewigen Qual gefangen. Ich bin getrieben von einer Kraft, die ich nicht kenne. Ich habe keine Kontrolle. Da ist der nächste Raum. Aber der ist hell erleuchtet und auf einmal, als ob ich das Zielobjekt einer Fernbedienung wäre und mein Besitzer plötzlich den Spaß an meinem Treiben verloren hätte, bleibe ich stehen. Einfach so. Ich höre mich atmen. Ich rieche Schweiß.
    Meine Wahrnehmung dreht sich um neunzig Grad. Ich liege am Boden. Überall nur Staub. Ich höre absolut nichts mehr. Ich bin taub. Ich versuche aufzustehen, aber irgendetwas liegt auf mir. Irgendjemand. Ich strecke meine Hände in die Luft. Sie sind blutbeschmiert. Ich blicke nach rechts. Da liegt eine Frau – ich glaube, dass es eine Frau ist. Ihr Gesicht ist entstellt, hängt in Fetzen von ihrem Kopf. Überall Blut.
    Es stinkt nach Schweiß und verbrannter Haut. Ein Bein ist über meinen Bauch gestreckt. Ich schiebe es zur Seite. Es ist von seinem ursprünglichen Besitzer getrennt. Ich knie über dem Torso eines Mannes, keine Ahnung, ob das sein Bein ist, aber ich lege es an seinen Körper. Ich stehe auf. Jessasmarandjosef, was habe ich getan? Mir wird schlecht und jetzt kommen die Tränen. Unaufhaltsam. Sie fließen in Strömen aus mir heraus. Ich kann nichts dagegen tun. Mein Geist denkt: Ich darf nicht weinen, ich muss etwas tun! Aber mein Körper gehorcht nicht. Ich stolpere durch einen Nebel aus Staub. Ich muss meine Hand vor Mund und Nase halten. Wie durch ein Wunder bin ich unverletzt, nur mein Kopf dröhnt, als ob ich gegen eine Wand gedonnert wäre. Ich bewege mich in irgendeine Richtung, vorbei an zuckenden Leibern, zertrümmerten Stühlen, Ziegeln und Flaschen. Ich steige auf Körperteile, die unter mir zerbrechen, zerfallen oder zerfließen, sich einfach auflösen.
    Es ist so banal. Ich steige über den Tod. Ich sehe den Tod, aber er übersieht mich. Ich spüre ihn, kann ihn schmecken, doch er kümmert sich nicht um mich. Er ignoriert mich einfach. Was hat das alles für einen Sinn? Ich weine ohne Ende. Ich weiß, dass ich laut weine, dass ich schreie, aber ich kann mich nicht hören. Ich bin taub. Da vorne ist die Bühne. Da liegt ein toter Körper auf dem Bauch. Instinktiv gehe ich zu ihm hin und drehe ihn um. Sein Gesicht ist kaum zu erkennen, aber ich weiß, wer das ist.
    Es ist Meine Wenigkeit. Der Gstettner Franz.
    Ich packe ihn am Kragen und brülle ihn an: »Warum hast du das getan, du Idiot?« Ich bin völlig außer mir, ziehe seinen leblosen Körper an mich, werfe ihn wieder zu Boden und schlage ihm ins Gesicht. Wieder und wieder, als ob er kein Mensch, sondern ein blöder Boxsack wäre. Jetzt verschwimmt alles vor mir. Ich weine einfach zu stark. Ich reibe mir die Augen und beruhige mich ein wenig. Ich höre immer noch nichts, aber ich spüre mein Herz schlagen. Jetzt sehe ich wieder.
    Ich stehe am Bühnenrand, eine Gitarre in der Hand. Unten die ratlosen, wilden oder lachenden Gesichter der Menschen. Manche starren mich nur an, schockiert oder fassungslos. Ich blicke zur Seite. Da liegt das Notebook. Ich weiß jetzt, was ich tun muss. Ich lege die Gitarre auf den Boden und greife nach dem Computer. Ich öffne ihn. Und dann muss ich pinkeln.

16. MEIN KREIS PT. 2
    Angeblich über hundert Tote.
    Irgendwo hinten im Saal hat dann ein Handy geläutet. Da, wo all die Medientypen gestanden sind. Und auf einmal packt dieser ganze Haufen seine Sachen zusammen und drängt hektisch zur Tür hinaus, wie ein großes Insekt.
    »In St. Pölten hat’s gerade einen Anschlag gegeben!«, hat einer von ihnen geschrien. »Im Festspielhaus. Angeblich über hundert Tote!«
    Das war das Stichwort. Im Raum breitete sich blitzschnell panische Nervosität aus, aber es blieb erstaunlich ruhig. Die
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