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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage
Autoren: Peter Sloterdijk
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problematische Kollegen aus dem Weg räumen. Du mußt zugeben, der Hinweis versetzt dich für sechzig Sekunden in eine nachdenkliche Stimmung.
9. April, Karlsruhe
    Nervös, als ob man der Schildkröte ihren Panzer gestohlen hätte.
    Der mesopotamischen Mythologie zufolge entstand die Arbeit aufgrund einer Götterlist. Da Arbeit eine ungöttliche Fron darstellt, auf die nicht verzichtet werden kann, mußten die Götter zu ihrer Verrichtung die Menschen erschaffen. Am Anfang war die Arbeitsteilung zwischen Göttern und Robotern. Die jüdische Genesis geht über den mesopotamischen Mythos von der Entstehung der Arbeit nur dadurch hinaus, daß sie für die späteren Arbeiter eine arbeitsfreie Phase im Paradies vorschaltet. Arbeit erscheint jetzt als eine Strafe, nicht als sklavisches Apriori. Der Effekt ist der gleiche, da die Strafe auf alle Zeit verhängt wurde.
    Was die Mesopotamier mit den Juden gemeinsam haben, ist das Gefühl, mit frustrierten Göttern konfrontiert zu sein, denen man es nie recht machen kann. Wenn die Historiker die Quellen richtig lesen, ist das Grundgefühl der Sünde bei den Babyloniern längst tief verankert, bevor das Judentum sich zu ihm bekehrt. Der Grund für das babylonische Sündendenken ist evident: Die Kulturen zwischen Euphrat und Tigris haben die Erinnerung an die Sintflut bewahrt und schreiben die Katastrophe ihrem eigenen fehlerhaften Wesen zu. Daß Babel die Heimat einer zügellosen Unsittlichkeit gewesen sei, ist ein polemisches Märchen aus der Zeit nach dem Exil, erfunden von Priestern, um den Rückkehrern nach Jerusalem den Abschied vom Komfort der »babylonischen Gefangenschaft« plausibel zu machen.
    Nach Auskunft des Veranstalters waren bei der Berliner Freiheitsrede im Allianzforum 60 Journalisten akkreditiert. Was mag es bedeuten, wenn in den Zeitungen mehrere Tage danach kein einziger Hinweis darauf zu finden ist? Statt dessen ist die Presse voll von Obduktionsberichten über die FDP.

12. April, Karlsruhe
    Nach den schrecklichen Nachrichten aus Amsterdam wache ich nachts häufiger auf. Unfähig wieder einzuschlafen, nehme ich mir Hebbels Tagebücher vor. Ich lege das Buch beiseite, als ich auf die Stelle stoße: »Wie natürlich muß es einem Greise sein, ein Kind, das er spielen sieht, zu ermorden; er muß sich vorkommen, als ob er der aufopfernde Heiland des Kindes seyn müßte.« (14. Juli 1835, zu Hamburg notiert) Wer von realen Sorgen heimgesucht ist, findet für die perfiden Blüten der Romantik in sich keinen Platz.
14. April, Karlsruhe
    Babs schreibt, Rene sei in ruhiger Verfassung und sehe der Amputation des Beins fast gelassen entgegen. Die Metastasen in der Lunge scheinen nach dem letzten Screening klar abgegrenzt und gut operabel.
    Aus Pondicherry kommt von Maren die Nachricht, Georges werde nach dem Schlaganfall zunehmend abwesend und klein. Seine Welt ist geschrumpft, er verbringt den Tag im Rollstuhl, von lokalen Helfern versorgt, indes das freundliche Klima eine große Erleichterung mit sich bringt. Seine Lieben umgeben sein Wenigerwerden mit ihrer Aufmerksamkeit, so gut sie können.
    Objektive »Tatsachen« entstehen, wenn man einen menschenleeren Raum konstruiert, in dem die Dinge unter sich sind. DerPrototypus einer solchen Tatsache ist das demokritische Atom, das in der Leere schwirrt. Seither sagt der ewige Positivismus, es gibt nur die Leere und das X, das für das diensthabende Etwas steht.
    Nichts ist genialer als Karl Barths Intuition, wonach die Wahrheit von meteorischer Natur sei. Mit dieser Einsicht brachte er das Motiv »senkrecht von oben« ins Gespräch der Moderne zurück, die nur noch Horizontales kennen wollte. Mit seiner theologischen Auslegung des meteorischen Effekts bin ich nicht so recht glücklich. Wie nämlich, wenn »Gott« nur einen Sonderfall von Vertikalität darstellte?
15. April, Karlsruhe
    Es möchte scheinen, als sei das träumerische Subjekt aus Rousseaus Fünftem Spaziergang im frühen 19. Jahrhundert nach Rußland ausgewandert, da es im arbeitsbesessenen Westen keine Heimstätte mehr finden konnte. Puschkin, Lermontow und Tschechow bieten ihm als erste eine neue Zuflucht, indem sie die »überflüssigen Menschen« in die Literatur ihres Landes einbürgern. Bald darauf kann man sich die Welt ohne die selige Langeweile der lischni tschelowek nicht mehr vorstellen. Gontscharow gewährt ihnen das immerwährende Asyl auf dem Sofa der russischen Faulheit. Über Oblomow heißt es bei ihm resümierend: »Er ist um nichts
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