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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage
Autoren: Peter Sloterdijk
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fällt auf, daß das Wort »verbeamtet« immer häufiger als Schimpfwort verwendet wird, üblicherweise in den Kommentaren von verbitterten Freiberuflern und von Transfergeldempfängern, die sich sozialkritisch Luft machen. Auch das Wort »pensionsberechtigt« wird wie ein giftgrüner Farbbeutel befüllt, um die Vertreter unwillkommener Meinungen in Professorenstellung damit zu bewerfen. Bis vor kurzem zirkulierten solche Ausdrücke nur in der Haßblogszene, inzwischen sind sie ins Hochfeuilleton durchgedrungen.
    Es ist leichter, einen afrikanischen Despoten zu verjagen als einen Direktor von Electricité de France.
    Was hätte wohl ein Autor wie Arnold Gehlen über mich und meine Arbeit gesagt, hätte er sie noch kennenlernen können? Arrière-Gardist deutscher Philosophie mit »großer Schlüsselattitüde«? Verirrter »Alleinunternehmer« in spezialistischer Zeit? Spätromantiker mit graphomanischen Antriebsüberschüssen? Ein Parsifal aus einem Wald, wo man noch allen Ernstes glaubt, es gehe darum, ein »Werk« zu schaffen, indessen die Zeit der Tischvorlagen begonnen hat? Keine dieser Karikaturen würde ich als Beleidigung auffassen, wären sie auch von einem herablassenden Lächeln begleitet.
    Was Herablassung angeht, lächelnde oder wütende – nach dreißig Jahren im Geschäft hat man mit ihnen einige Erfahrung. Wie oft wird man von so »ungeheuer oben« besprochen, und sieht man näher hin, sind es fast immer Subalterne, die dir mit schneidender Herauflassung in den Absatz beißen.
20. März, Wien
    Mme de Warens hielt sich in Les Charmettes bei Chambéry ab 1737 neben dem jungen Rousseau einen zweiten Liebhaber, einen gewissen Wintzenried, den die Literatur sehr zu Recht als ihr Fucktotum bezeichnet. Man könnte sich fragen, wieso Rousseaus Paranoia nicht schon während seiner unfreiwilligen Beteiligung an dieser ménage à trois zum Ausbruch gelangte. Vermutlich hat der freimütige Umgang der Dame mit der prekären Situation bewirkt, daß Rousseau sich nur zurückgesetzt, nicht hintergangen fühlte. Zudem war er zu jener Zeit noch ein Niemand, und Niemande sind vor Verfolgung besser geschützt als etablierte Persönlichkeiten. Rousseau mußte ein berühmter Jemand werden, um wahnsinnig werden zu können.
    Ob es eine altersbedingte Abrüstung von Aversionen ist oder eine Wirkung meiner wiederholten Lektüre der Rêveries , deren listige Genialität sich nur nach und nach erschließt: ich beobachte jedenfalls, wie der Anti-Rousseau-Affekt bei mir sich allmählich abschwächt. Obwohl es keinen Grund gibt, die Reserven hinsichtlich seiner Person und die Anklagen gegen seine fatalen Wirkungen zu widerrufen, erscheint er als Autor heute weniger abstoßend als früher, und wäre es auch nur, weil ich mit schwindendem Widerwillen zugebe, daß Kant und Goethe, die beide Rousseau verehrten, unmöglich ganz ins Leere gegriffen haben können. An Rousseau ist Goethe aufgegangen, wie ein Schriftsteller zu einer höheren Gewalt werden kann.
21. März, Wien
    Sokrates: »Es war ein kluger Genealoge, der sagte, die Iris (der Regenbogen) sei die Tochter des Thaumas (des Wunders).« Was man das Staunen nennt, entsteht aus dem Überhang des Unbekannten. Unterscheidet man das »Staunen Daß« vom »StaunenWie« und »Staunen Was«, wird man bemerken, die Alten kannten nur die beiden letzteren Arten von Verwunderung.
    In der Süddeutschen Zeitung portraitiert der Arabist Günther Orth den Libyer Gaddafi im Licht seiner Schriften: ein Gottgesandter aus den Tiefen der Wüste, den Gottes Wind in die Städte geweht hatte, ein Menschen- und Frauenversteher der selbstherrlichsten Sorte, ein selbsterklärter Sozialist, ein bedouinischer Anarchist, der sich im Jahr 2008 zum King of Kings of Africa proklamierte, auf diese Weise die persische Großkönigsidee persiflierend, die in Rom zu den Caesaren und in Europa zu den Kaisern geführt hatte, ein beflügelter Erzähler, ein herrischer Träumer, ein feudaler Vergewaltiger und, last, but not least, ein Auftraggeber summarischer Großtötungsaktionen. Sein revolutionärer Surrealismus demonstrierte, was geschehen kann, wenn der Geist der Utopie von Münster nach Tripolis überspringt.
    Das alles verschwindet in dem kompakten Beschluß der französischen Regierung, die Gaddafi bis vor kurzem umwarb, die libyschen Rebellen zu unterstützen. Von diesem Moment an gilt er nur noch als das größenwahnsinnige Schwein, dessen Schlachtung die freie Welt entgegenfiebert. Niemand will zur Kenntnis
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