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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage
Autoren: Peter Sloterdijk
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gelegentlich durch den Kopf geht: daß die eigene Endlichkeit nicht alles ist. 1
    Das zweite Buch erinnert mit seinem fast ebenso bizarren Titel »Aus der besten Welt« an das Leibnizsche Theorem, wonach die real existierende Welt – unter der Prämisse ihres Hervorgehens aus einem Ursprung, der nicht besser sein könnte – mit unumgänglicher Notwendigkeit als die beste aller möglichen Welten zu begreifen sei. Er wurde alles in allem ohne Ironie gewählt, obwohl er der Satire unfreiwillig nahekommt. Der Autor ist der Meinung, es gehe letztlich darum, die Leibnizsche Sicht der Dinge wie eine sich selbst wahrmachende Übertreibung zu unterstützen, ohne sich dadurch einschüchtern zu lassen, daß der Denker seit seiner Verspottung durch Voltaire und seinesgleichen oft als der Idiot der philosophischen Familie belächelt wird.
    Der erwähnte Versuch des Autors, Peinliches und Belangloses in seinen Notizen auszulassen, stieß an eine prinzipielle Grenze, wenn Sätze oder Abschnitte wiederzugeben waren, in denen das Pronomen »ich« vorkommt. Tatsächlich gibt es in allem, was folgt, kaum eine Stelle, an der der Autor die Peinlichkeit des Ich-Sagens nicht mehr oder weniger deutlich verspürt. Er sieht ein, daß er diese Verlegenheit nicht nur aus grammatischen Gründen in Kauf nehmen mußte, sondern auch weil es zum Merkmalvon »datierten Notizen« gehört, den Standortvorteil »Ich« geltend zu machen. Ob dieser nicht durch entsprechende Nachteile überwogen wird, kann hier unentschieden bleiben. Die Leser, die befürchten, man müsse sich jetzt auf eine Serie analoger Bücher des Autors gefaßt machen, mögen zur Kenntnis nehmen, daß ihre Sorge unbegründet ist. Weitere Editionen von Notizbüchern sind nicht vorgesehen.

Erstes Buch
    Spuren ins Posthumien

Heft 100
    8. Mai 2008 – 21. September 2008
8. Mai, Karlsruhe
    Das intellektuelle Überleben in dieser Stadt hängt zu wesentlichen Teilen von den Tischgesprächen mit den Freunden ab. Fehlt auch nur einer über längere Zeit, spürt man den Entzug.
    Boris berichtet gerade von einer jungen Russin, Dacha Jukowa, die als die amtierende Geliebte von Roman Abramowitsch gilt, dem russischen Mogul von Chelsea. Er lernte sie kürzlich in London kennen, als sie am Rande eines von ihm gegebenen Seminars seinen Rat suchte: Sie interessiere sich neuerdings, eigentlich aber immer schon, für Kunst und möchte sich besser »orientieren«; zu diesem Zweck habe sie sich einen Privatjet gekauft. Der werde sie, so ihre Annahme, der Kunst näher bringen, die unglücklicherweise so weit verstreut ist.
    Man kann sich die Haltung von Boris in einem solchen Gespräch gut vorstellen. Er verzeiht der jungen Schönheit, daß sie bei der Wahl zwischen Geld und Geist die plausible Entscheidung getroffen hat. Er stellt es der Dame anheim, ihren Fehler eines Tages zu revidieren, und da sie heute auf ihn, den Philosophen, zukam, sieht er sie auf einem guten Weg.
    Erneut rezitiert Bazon Brock während eines Treffens im Rektorat sein Doppel-Theorem: Lerne zu leiden, ohne zu klagen – und: lerne zu klagen, ohne zu leiden! Welche von den beiden Maximen er gerade befolgt, ist nicht ganz leicht zu entscheiden: Überwiegend lamentierend schien sein Bericht über einen Vorfall im Hause Burda in München vor drei Monaten: Damals habe Maria Furtwängler ihm zwei Minuten Redezeit für einenGeburtstagstoast auf ihren Gatten eingeräumt und sich dadurch den Unwillen unseres Karlsruher Emeritus Hans Belting zugezogen, denn dieser hatte darauf bestanden, Bazon, für ihn seit langem ein rotes Tuch, dürfe in seiner Gegenwart auf keinen Fall das Wort ergreifen, schon gar nicht unmittelbar vor ihm. Ehe mir klar wurde, ob Bazon nicht doch auf normale Weise gleichzeitig klagt und leidet, war er schon bei seinem nächsten Thema: Er führt einen a priori verlorenen und insofern erhabenen Kampf um die Ehrenrettung des Limbus bzw. der Vorhölle – deren leichtfertige Abschaffung durch den amtierenden Papst er befehdet. Wofür man die Vorhölle weiterhin so dringend braucht, war seinen Ausführungen nicht auf der Stelle zu entnehmen.
    Post kommt von der Universität Warwick: man möchte die Kosten für die Übersetzung meiner Rede ( Kultur ist eine Ordensregel – über Wittgensteins Sprachspiele als Formen des übenden Lebens) von dem (winzigen) Honorar des Gastes abziehen – und bittet um dessen Zustimmung. Solche Briefe kann man nur von Universitäten bekommen; Privatleute würden sich bemühen, ihre
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