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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage
Autoren: Peter Sloterdijk
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Gleichzeitig schwere Erdbeben in China: mehrere Städte ausgelöscht. Hohe Zahlen an Todesopfern. Es ist die Erdgeschichte, die nicht zu Ende ist.
    Individuen teilen die kosmischen Zeitalter anders ein als Geologen. Für uns beginnt alles mit der präexistentiellen Ewigkeit. In der geben wir den Dingen Zeit, sich zu entwickeln, damit etwas zu sehen ist, wenn wir kommen. Während wir noch nicht da sind, versinken die Farnwälder unter die Meere, und Reptilien lernen fliegen. Der opponierbare Daumen wird erfunden, dann stehen wir schon auf der Schwelle.
    Auf die Epoche der ersten Ewigkeit folgt das Weltalter des Daseins: In dieser Zeit überzeugen wir uns vom Stand der Dinge. Wenn man anfangs meinte, man habe es mit einer stets identischen Natur zu tun, läßt später ein Eindruck von allgemeinem Gleiten sich nicht vermeiden. Zuletzt versteht man, der jetzigeMensch ist nur eine Episode in den Geschichten der Gene, der Silben, der Grundrisse von Häusern.
    Die Daseinsära geht zügig in die zweite Ewigkeit über, die man auch das Posthumien nennen könnte. In dieser Phase überlassen wir die Dinge wieder ihrem Lauf, nachdem uns die kurze Inspektion überzeugt hat, daß die Existenz und das übrige nicht wirklich zusammenpassen.
    Das Konzept des factum brutum drückt aus, daß es den Denkenden nicht gelingt, eine bestimmte Tatsache – etwa das eigene Dasein und die Existenz der Welt überhaupt – aus einsichtigen Prinzipien abzuleiten. Dieser Skandal – Unableitbarkeit – wird im modernen Denken mit dem Wort Faktizität markiert. Es ist ein Lieblingswort von enttäuschten Systematikern. Früher konnte man das Unableitbare in dem altehrwürdigen, obschon – wie Spinoza und Fichte wußten – absurden Begriff »Schöpfung« verstecken. Das brutum in facto kommt in seiner ganzen Roheit ans Licht, wenn man den Schöpfungsbegriff fallengelassen hat. Etwas hiervon scheint Emil Lask in seiner Studie Fichtes Idealismus und die Geschichte , 1902, gesehen zu haben. Daher: »Was wirklich ist, ist gerade nicht vernünftig.«
    Lese einige Seiten in Michel Serres’ Buchs über Schmutz und Eigentum. Darin ist die Rede von pissenden Tigern, die ihr Terrain markieren, wobei ihr ätzender Urin wie eine Landesgrenze fungiert, und von Leuten, die in die Suppe spucken, um sie sich anzueignen – sprich, um sie für andere ungenießbar zu machen. Leider ist Serres’ Hauptargument, die Gleichsetzung von eigen (propre) und schmutzig (malpropre), nicht mehr als ein überzogener Kalauer. Serres rivalisiert, ohne es zu wissen, mit Proudhon, der Eigentum mit Diebstahl gleichgesetzt hatte; jetzt soll Eigentum Schmutz sein. Die Beschmutzung, wie wir sie empirisch beobachten, ist aber das Gegenteil der Aneignung, sie führt zur Preisgabe einer Sache, zur Schaffung eines Niemandsobjekts. Viel plausibler ist das Gegenteil: Wo Eigentumauftaucht, fängt die Reinigung an. Wer hat, der hegt und pflegt. Sobald ein Eigentümer fehlt, türmt sich der Müll.
    Kepels neues Buch macht den Eindruck, als habe der Autor mit sämtlichen Terroristen des Nahen Ostens gezeltet. Nach langen Gesprächen mit ihnen ist er überzeugt, ihre Zeit sei abgelaufen. Nun kommt der Moment, sagt er, in dem man den Frieden in der Region durch eine mediterrane Wirtschaftsunion sichern müsse, groß genug, um eines Tages den Iran und die Golfstaaten einzuschließen. Sein Kennwort heißt: Mittelmeerische Renaissance. Ohne sie, versichert er, versinkt Europa in der Bedeutungslosigkeit. Nur ein Anknüpfen an der großen diplomatischen Tradition Europas – sprich Frankreichs – könne das völlige Scheitern der amerikanischen Gewaltpolitik in der Region kompensieren, und wenn es Jahrzehnte dauert, bis die ökonomische Einhegung des Nahen Ostens geglückt ist. Bemerkenswert, mit welchem Nachdruck Kepel die notwendige Anbindung des Iran an den europäischen Raum hervorkehrt. Ich lese seine Vorschläge vor allem als Anregung zu einer Fächerreform an französischen Hochschulen: Aus Romanistik und Orientalistik soll eine neue Hyperdisziplin werden.
    Beifang an Wörtern:
    Cyberbimbo
    Dependence Day
    Dschihadosphäre
    Was die Franzosen an der aktuellen Pariser Fotoausstellung über die Jahre der Okkupation so sehr in Verlegenheit setzt: Sie macht die triviale Wahrheit sichtbar, daß auch diese Zeit »Lebensjahre« waren. Man sieht lachende Menschen, die in der ewigen Gegenwart verweilen. Gutgelaunte Frauen flirten mit den Besatzern. Wer macht sich die Mühe, ständig unter den Umständen
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