Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage
Autoren: Peter Sloterdijk
Vom Netzwerk:
zu leiden? Nur patriotische Fundamentalisten tun das, die nach der Befreiung den Ton angeben werden, unterstützt von den Profiteuren des Existentialismus.
17. Mai, Karlsruhe
    In einem dem Ton nach freundlichen Brief von Ende März tadelt mich ein Dr. B. für meinen Gebrauch von Fremdwörtern und Fachausdrücken in Gottes Eifer . Zum Beispiel tun ihm Wendungen wie »Suprematismus« oder »mehrwertige Logik« in der Seele weh. Er redet, als hätte ich die einfachen Gläubigen verschreckt, die er nun ritterlich vertritt. Nichts ist so suspekt wie dieser Populismus der Gebildeten, die im Namen der anderen selber nicht verstehen.
    Die USA, das seltsame Land, in dem sich Waffennarren wie Parteien organisieren. Die National Rifle Association soll 4,2 Millionen Mitglieder zählen. Zum Vergleich: im April 2008 hatte die SPD 533000 Mitglieder (im Jahr 1971 waren es noch eine Million), darunter 34% Rentner, 23% Beamte, 15% Angestellte, 8% Arbeiter(!), 5% Arbeitslose). Seit längerem habe ich das Gefühl, daß nichts so subversiv ist wie Zahlen.
    Beruf: Opiniater
    Facharzt für Erkrankungen des Meinungsapparats
    Andrea Köhler liefert in der NZZ eine Übersicht über junge amerikanische Literatur. Deren Problem ist durchwegs die Überorchestrierung – zu viele Mittel für zu wenig Zweck.
    Wo habe ich das aufgeschnappt? Das Wort »Elite« sei im 18. Jahrhundert durch Übernahme eines entsprechenden französischen Militärterminus im Deutschen aufgetaucht. Bei dem lateinischen Agrarschriftsteller Columella meint »eligere« noch das Entfernen von Steinen und Unkraut aus dem Acker. In diesem Fall ist das Gute das, was nach der Auslese des Störenden übrigbleibt. Die moderne Elite dagegen will selber das Gute sein, das glänzt, nachdem man das Zweitklassige beiseite gelassen hat.
    Las auf der Heimfahrt von Paris gestern Alain Badious Pamphlet gegen Sarkozy ( De quoi Sarkozy est-il le nom? ).
    Darin wird der Staatschef als ein Wiedergänger des Marschalls Pétain »entlarvt«. Man muß den konzeptlosen Hektiker Sarkozy nicht mögen, um das Absurde dieser Assoziation zu erkennen. Wenn es eine historische Analogie gibt, die Sarkozy von ferne trifft, dann ist es die mit Napoleon dem Kleinen – wie Victor Hugo den dritten Napoleon nannte. Dazu stimmt auch die Art und Weise, wie Louis Napoléon und Kaiserin Eugénie mit der Massenpresse ihrer Zeit im Bündnis waren – sie gaben dem Volk der Neugierigen eine Chance, imaginär an der Fête impériale teilzuhaben. Für die Affinität Sarkozys zu Napoleon III. spricht auch seine wenig bekannte, da diskret betriebene Initiative, die sterbliche Hülle des im britischen Exil verstorbenen zweiten Kaisers der Franzosen zu repatriieren – ein Projekt, das am Widerstand der Mönche von Farnborough, die seit 1888 über das umgebettete Grab des Kaisers wachen, scheiterte.
    Doch so abwegig die Parallele zu Pétain auch ist, sie macht klar, der Jakobinismus überlebt in Frankreich bis heute, er überlebt nicht nur, er ist virulent, er steckt noch an. Die Lust an der Anklage treibt ihn voran wie in den Tagen der Wohlfahrtsausschüsse. In der Sache ist er ein moralisierender Militantismus, durch den eine Handvoll Auserwählter sich berufen weiß, gegen die verführte Menge und ihren verächtlichen Staat zu agieren. Erstaunlicherweise sagt Badiou: Der Faschismus ist ein positiver Elan, eine affirmative Kraft! (S. 19f.) Das klingt, als wollte er diesen Elan für die Linke reklamieren – wahrscheinlich macht die listige Vertauschung der radikalen Pole seine Attraktivität aus, die man auch hierzulande bei manchen klugen unruhigen Jungen bemerkt. Sie suchen den Guru und finden Mephisto. Dazu gehört, fast unvermeidlich: die Auslegung der »Situation« als Lage im Krieg. In diesem Punkt bleibt der Autor an das frühe 20. Jahrhundert fixiert. Anders als für Nolte, bei dem der europäische Bürgerkrieg 1945 endete, geht er für Badiou, hierin noch immer Maoist, als ewiger Krieg weiter.
    Jeder Denker ist dann ein Warlord und alles Positive eine aktive Stellung im Kriegsgeschehen. Mit einiger Sorglosigkeit bindet Badiou die Auslegung der Wirklichkeit als Krieg an eine platonische Idee von Wahrheit: Der authentische Mann der Linken wäre demnach der Kreuzfahrer, der aufbricht, um das Wahre in das Wirkliche herüberzuzwingen – diesen Übergang beschwört das Zauberwort »Ereignis«, das den Schlüssel zu seinem System darstellt. Badious Verwerfung aller gemäßigten linken Programme ist so gesehen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher