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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage
Autoren: Peter Sloterdijk
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einem umgewidmeten klassizistischen Stadtschloß, an dem der selige Felix Krull, nachmals Graf de Venosta, seinen Aufstieg begann. Zuvor mit der Verlegerin im Benoît. Um in der fremden Stadt nicht wie ein Blatt im Wind zu sein, muß man immer dieselben Orte aufsuchen.
14. Mai, Paris
    Zu Fuß über den Boulevard St. Germain für die obligate Tour durch die Buchhandlungen. Zuerst eine halbe Stunde bei L’écume des pages, dann zu La hune. Einige möglicherweise brauchbare Funde aufgetrieben, darunter ein neues kleineres Werk von Michel Serres über Schmutz und Eigentum, ebenso die lang vermißte Neuauflage von Bourseillers Buch über die Maoisten in Frankreich – ein Basisdokument zur Krankengeschichte der Generation nach 68.
    Übernervöse Stunden am Nachmittag im Haus am Montmartre bei Maren, wo ich das Deplazierte solcher Reisen noch heftiger als sonst verspüre. Dieses falsche Hinausgehenmüssen in Augenblicken, in denen alles für den Rückzug spricht.
    Der Abend war am Ende nichts als eine Variation über das Thema salaire de la peur – oder: Wie man es fertigbringt, im schlechtesten Moment eine halbwegs erträgliche Figur zu machen.
    Am Schluß unseres Auftritts in dem großen Hörsaal der Sciences Po ließ Bruno Latour Fragen aus dem Publikum in einem Hut einsammeln, um auszulosen, welche beantwortet würden. Aus der Menge der zusammengefalteten Papiere griff er je eines heraus und las die Frage vor. Die dritte Frage lautete: Seit wann ist Ihr Friseur im Gefängnis? Ich hätte sagen sollen: Seit 1968, sieht man das nicht?
    Zur selben Zeit war vorgesehen, daß Alain Finkielkraut, wie ich nachträglich erfahre, im selben Gebäude einen Vortrag über seine Sicht auf die Ereignisse vom Mai 1968 halten sollte – ein Thema, das von der Presse wegen des 40. Jahrestags stark ausgebeutet wird. Hier wie überall fressen die Jubiläen die Gegenwart auf. Ich erinnere mich, daß man während unserer Veranstaltung plötzlich Lärm auf den Korridoren gehört hatte. Später finde ich heraus, eine Gruppe von Studenten hatte Alain mit Sprechchören niedergebrüllt, so hartnäckig, daß er sein Referat nicht halten konnte. Trost bei solchen Zwischenfällen kommt aus dem Gedanken, daß jung sein heißt, viel Zeit haben, sich für die frühe Rechthaberei zu schämen (Sartre: Jugend, das Alter des Ressentiments). Ohne es zu wissen, trug ich zur Rehabilitation Finkielkrauts indirekt ein wenig bei, indem ich die neuen Protestierer im allgemeinen, die sich heute bemerkbar machen, nicht ganz ohne Sympathie als eine Gruppe von Frustrierten beschrieb, die es bedauern, die Göttin Geschichte nicht mehr persönlich kennengelernt zu haben.
    Auch die Göttin ist tot, die für sinnvolle Zeitabläufe zuständig war. Wie der kosmische Kollege ist sie keines natürlichen Todes gestorben, sondern einem Attentat durch Geschichtsatheisten erlegen. Zu denen muß man Alain rechnen, da er wieder die Moral über die Geschichte stellt. Das verzeihen ihm die jungen Aktivisten nicht, die weiter gern im großen Drama leben möchten.
    Das anschließende Abendessen in einem traditionsreich-mittelmäßigen Restaurant, gleich neben den Gebäuden der Sciences Po, gab Gelegenheit, erneut ein paar Worte mit Gilles Kepel und François Jullien zu wechseln. Kepel schenkt mir sein jüngstes Buch: Terreur et martyre. Relever le défi de civilisation , vor wenigen Wochen bei Flammarion erschienen. Er mokiert sich über eine patriarchalische Redewendung aus dem Mund von Bruno Latour, der bei Tisch gesagt hatte: Ich verheirate dann und dann dort und dort meine Tochter – als ob das Heiraten eine Sache sei,die vom Vater gesteuert wird. Bemerkenswert, daß einen Arabisten dieses römisch-vaterrechtliche Sprachspiel hellhörig macht. Seit Jahrzehnten habe er es nicht mehr gehört, meinte Kepel, daß ein Mann das Wort »verheiraten« als transitives Verbum gebraucht. Latour schaut ein wenig verstört drein – als wollte er sagen, es ist doch besser, die Tochter »pro-aktiv« aus der Hand zu geben, als sie von einem erigierten Angeber weggenommen zu bekommen. Kepel berichtet von vielversprechenden Debatten mit arabischen Intellektuellen auf Al Dschasira.
    An solchen Tagen zitiert man bei sich alle zehn Minuten die Benn-Formel: jenseits von Sieg und Niederlage.
15. Mai, Karlsruhe
    Experten rätseln noch, ob der Wirbelsturm dieser Tage im Sklavenstaat Birma, aus dem man kaum irgendwelche zuverlässigen Informationen erhält, 30000 oder 100000 Tote gefordert hat.
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